Jedes Jahr am Silvesterabend schauen Millionen die Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin, obwohl sie sie nachher oft als inhaltsleer bezeichnen. Ich habe diesmal gut zugehört und eine für mich wichtige Kleinigkeit gefunden.
Als im November eine Petition auf einer Internetplattform auftauchte, mit der die Bundeskanzlerin aufgefordert wurde, Menschen mit Behinderung in ihrer Neujahrsansprache zu erwähnen, hielt ich das für reinen Unsinn. Welchen Wert hat es, so fragte ich mich, wenn man per Petition die Bundeskanzlerin dazu bringt, in einer Sonntagsrede beispielsweise auch behinderte Menschen zu grüßen oder ähnliches, wenn sich im Alltag dann doch nichts ändert. Was bringt es, um einen anderen Fall zu nennen, wenn man die Arbeitslosen in einer Sonntagsrede bedauert und sie im Alltag dann doch verhöhnt, erniedrigt und beschimpft? Also habe ich die Petition gar nicht erst unterschrieben und die ganze Angelegenheit vergessen.
Und dann hörte ich in der Neujahrsansprache folgende Sätze: „Viele in Deutschland – Junge wie Alte – sagen: Ich wage es. Sie gründen eine Initiative oder eine Firma. Sie nutzen ihr Talent und werden Künstler, Sportler oder Handwerker. Sie setzen sich ein in ihrem Beruf als Verkäuferin, Altenpflegerin oder Richterin. Sie leben mit einer Behinderung und tragen wie Millionen anderer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zum Erfolg unseres Landes bei. Sie schauen nicht weg, sondern zeigen Zivilcourage, wenn andere bedrängt werden und in Not geraten. Jede Lebensgeschichte steht für sich – und trägt zugleich ihren Teil zu dem bei, was unser Land im Kern ausmacht: Leistungsbereitschaft, Engagement, Zusammenhalt.“
Und plötzlich sehe ich die Petition und die Ansprache mit anderen Augen. Obwohl sie vieles enthält, was ich in meiner typischen Art kritisiere, finde ich, dass Angela Merkel mit der Erwähnung der Menschen mit Behinderung einen richtigen und guten Schritt getan hat. Nicht so sehr, weil sie sich dazu herabgelassen hat, uns überhaupt zu erwähnen, dazu musste sie ja praktisch sogar aufgefordert werden, sondern wegen der Art, wie sie es getan hat: Menschen mit Behinderung erscheinen in ihrer Rede ganz selbstverständlich neben allen anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, als ein Teil der Gesellschaft, als Menschen, die ganz selbstverständlich zum Erfolg des Landes beitragen. Sie wurden erwähnt, wie man die Verkäuferinnen, Richterinnen und Altenpflegerinnen erwähnte. Es waren keine besonderen, herausragenden Leistungen, die die Kanzlerin in ihrer Neujahrsansprache bewunderte, es war einfach ganz normal, dass wir dazu gehörten, wie Millionen anderer menschen auch. Das ist das eigentlich neue an dieser Ansprache, nicht die Tatsache, dass Menschen mit Behinderung überhaupt erwähnt wurden.
Vielleicht setzt sich langsam eine Sichtweise von Behinderung durch, die uns auf die Dauer tatsächlich zu einem normalen Teil der Gesellschaft macht. Ein Teil, der seine Bedürfnisse hat, der seine Hilfsmittel benötigt, der aber, wenn die Voraussetzungen stimmen, wie Millionen anderer Menschen auch seinen Beitrag leistet.