Eigentlich bin ich immer aufgeregt, wenn ich mit dem Zug reise. Es muss immer viel bedacht werden, Umsteigen gefällt mir gar nicht, vor allem dann nicht, wenn ich binnen weniger Minuten durch den halben Bahnhof einer Großstadt hetzen muss, um meinen Anschlusszug noch zu kriegen. Und dann kann ja auch immer noch einiges schief gehen, wie neulich, als wir nach Berlin fuhren… – Aber das ist ein anderes Thema. – Also eigentlich bin ich immer vor Zugreisen extrem aufgeregt. Aber gerade habe ich eine unwiderstehliche Vorstellung.
Ich sitze in einem Zug, einer Doppeldeckerklapperkiste des Regionalverkehrs. Neben mir steht ein schwerer Rucksack, den ich mir vom Rücken gewuchtet habe, als wir eingestiegen sind. Mir gegenüber sitzt meine Liebste, ebenfalls mit einem sehr sehr schweren Rucksack bewaffnet. Es ist ein schöner Frühlingsmorgen, und wir verlassen den Bahnhof in Hagen und fahren mit der Sonne schräg links hinter uns in den Frühling hinein. Der Zug rattert über die Gleise, Menschen um uns her unterhalten sich fast im Slang meiner Heimat, während wir in Ennepetal halten und dann über Schwelm in Wuppertal einfahren. Viermal hält der Zug in Wuppertal, und ich höre den Dialekt, mit dem ich aufgewachsen bin. Meine Liebste sitzt mir gegenüber, den Kopfhörer auf den Ohren, aber ich lausche den Menschen, so nahe komme ich meiner Geburtsstadt Solingen selten. Schon in Düsseldorf, unserem nächsten Halt, wo der Bahnhof schon wie ein Flughafen wirkt, hat sich der Dialekt verändert, obwohl erst 15 Minuten vergangen sind. Ich atme tief durch und genieße den Frühlingsmorgen, den Arm auf den Rucksack neben mir gelegt, das Teil ist schwer und rutscht nicht. Wieder fährt der Zug weiter, diesmal halten wir in Neuss. Es ist Mittag, einige Menschen steigen zu, andere verabschieden sich lachend und scherzend. Man kann sogar einige Vögel hören, auch wenn der Verkehrslärm da ist.
Weiter geht die Fahrt nach Mönchengladbach. Der Zug ist nicht leer, auf den Gängen hört man niederrheinische Unterhaltungen. Und da: Habe ich da nicht… – Aber es wird wohl Einbildung gewesen sein. Eine knurrige Lautsprecherdurchsage beendet unseren Aufenthalt, während aus dem Gangfenster heraus letzte Verabschiedungen gerufen werden, aber dies ist ein Nahverkehrszug, man ist nicht lange weg und verabredet sich zum abendlichen Bier, während der Zug langsam anrollt.
Ja, eigentlich mag ich Bahnreisen gar nicht so gerne, aber jetzt entspanne ich mich, und ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht. Meine Liebste nimmt die Kopfhörer ab, als wir 10 Minuten später in Viersen einfahren. Der Bahnhof ist klein, eine Lautsprecherstimme quäkt, die Vögel sind jetzt viel näher. Sonnenstrahlen fallen auf mein Gesicht, wärmen meine offene Jacke, streicheln meine Hand, die auf dem Rucksack liegt. Seit fünfeinhalb Stunden sind wir unterwegs, und jetzt fällt alles, was Stress geheißen hat, von uns ab. Gesprochen wird noch kaum bei uns, wir beschränken uns aufs Lauschen. Und da: – Der Fetzen einer Unterhaltung, ich glaube, diesmal habe ich mich nicht getäuscht.
Dülken heißt der nächste Bahnhof, und für mich halten wir nur, um wieder eine Portion Alltagsstress abzuladen; Ich sehe förmlich vor meinem geistigen Auge, wie er in riesigen Kisten aus dem Zug getragen wird. Dasselbe gilt für die Bahnhöfe Boisheim und Breyell, an denen nur das Klappern der Türen mitteilt, dass einzelne Menschen zu- oder ausgestiegen sind. Und dann halten wir in Kaldenkirchen, einem Stadtteil von Nettetal. Und hier verlässt mich jeder Zweifel, den ich irgendwo noch gehabt haben mag, hier geschieht, worauf ich schon so lange an diesem Morgen warte: Ich höre eine Unterhaltung im sachten, leicht singenden Tonfall meiner limburgischen Zweitwahlheimat, und unverkennbar in niederländischer Sprache. Als der Zug für 6 Minuten noch einmal anfährt, habe ich innerlich die Grenze überschritten.
Das nächste Geräusch, das sich zu meinen Ohren durcharbeitet und jeden Zug in meinem Inneren mühelos übertönt, ist das Klingeln der Eisenbahnschranke. Plötzlich fahren wir an dieser hellen Glocke vorbei, die hinter uns einen Ton tiefer wird, brav dem Doppler-Effekt folgend. Dieser Zug hätte an dieser Stelle auch vor 50 Jahren auf dieselbe Weise fahren können. Moderne? Pha! Weiche von mir, Satan, hier hast du keine Macht. Es wird Zeit, den schweren Rucksack zu schultern, aber mir ist vollkommen egal, wie schwer er ist, wie lange wir schon unterwegs sind. Eine zweite Eisenbahnschranke ist zu hören, und inzwischen haben wir auch die äußere Grenze hinter uns gelassen. Als wir in Venlo einfahren, sind wir bereit, meine Liebste und ich: Entspannt, glücklich und schon jetzt um einige Stresskilo leichter. Warme, laue Luft empfängt uns auf dem Bahnsteig. Wir werden eine halbe Stunde warten müssen, aber das ist uns vollkommen egal. Wir sitzen auf einer Bank am Bahnsteig und hören, wie Menschen vorbeischlendern. Hin und wieder sprechen sie miteinander, rufen sich über die Gleise etwas zu, einer Pfeift. Fehlt nur noch der Duft von Kaffee.
Und bald sitzen wir wieder in einem Zug, aber in was für einem. Ein kleines Bimmelbähnchen ist es, in dem man jede Schranke noch deutlicher hört, und es gibt einige davon auf unserem Weg. Die Stimmung ist wie in einem Kleinstadtbus, wo man sich kennt, obwohl das nicht sein kann. Es wird geplaudert, der Zugführer begrüßt jeden Gast mit einem Kopfnicken und einem „Hoi!“ Man hört die Einkaufstüten, dies ist ein absolutes Regionalbähnchen, und wenn es Verspätung hat, ist es auch egal. Dies hier ist eine Nachbarschaftseisenbahn, Fahrpläne sind nett, aber ab und an fällt das Ding auch einfach mal aus, ohne dass sich viele Leute darüber ärgern würden. So ist die Bahn halt. Und solange es diese Bähnchen noch gibt, genießt man es, oder man nimmt es als selbstverständlich hin. Frauen mittleren Alters fahren hier häufig, vom Einkaufen in Venlo zurück nach hause, oder zum Kleiderkauf ins Designer Outlet nach Roermond.
Die Stationen heißen jetzt Tegelen, Reuver und Swalmen, und sie werden vom Zugführer selbst mit singender Stimme in Terzen angekündigt: Die erste Silbe hoch, die letzte Silbe tiefer. Ich höre die Stimme genau. Nach Swalmen stehen wir auf, während wir wieder in einen mittelgroßen Bahnhof einfahren, ein Hort der normalen Geschäftigkeit nach diesen Milchkännchen der letzten halben Stunde. Roermond Hauptbahnhof, das Ziel unserer Bahnreise.
Ein Taxi und eine halbe Stunde später stehen wir, meine Liebste und ich, bepackt mit unseren Rucksäcken und im Vollbesitz unserer Lebensfreude auf einem kleinen Platz mitten im Wald. Sonne, Vögel und leichte, wundervoll reine Luft umgeben uns. Menschen wandern fröhlich umher, in der Ferne hört man Hämmer und Sägen, ein Radio bringt Popmusik, noch weiter entfernt. Der Knall einer Vogelscheuche erfüllt die Luft, dann meint man, irgendwo in der Ferne einen Hahn krähen zu hören. Vor uns geht die Tür des Büros auf und zu, und im Innern höre ich lachende Unterhaltungen.
Und wieder eine viertel Stunde später sitze ich auf einer Bank aus Holz vor einem kleinen Häuschen. Ich werde Stunden hier sitzen, wenn das Wetter es erlaubt. Einmal im Jahr muss es sein, einmal im Jahr muss ich hierher zurückkehren, um aufzutanken, die Geborgenheit kindlicher Zuneigung zu einem Ort fühlen, der längst nicht immer so schön ist, wie ich ihn in meiner Vorstellung male, aber für mich schon. Ich bin wieder auf Heelderpeel, meiner niederländischen Zweitheimat.
Dies alles stelle ich mir gerade mit unwiderstehlicher Kraft in meiner Fantasie vor. Doch halt: Schon morgen, schon in 24 Stunden, wird diese Vorstellung Wirklichkeit werden, und wenn nicht ganz genau so, dann doch fast. Und ich kann es kaum noch erwarten.