Dass ich die Niederlande als meine zweite Heimat betrachte, hat ja nun jeder hier schon mehrfach gelesen. Dumm war in den letzten Jahren nur, dass ich kaum die Gelegenheit hatte, niederländisch zu sprechen, sodass meine Vokabeln ziemlich einrosteten. Es gab nur zwei Gelegenheiten, dieser Sprache zu fröhnen: Einmal während meines jährlichen Urlaubs dort, und einmal mit meinem Freund und Radiokollegen Markus, der aber selbst auch deutscher ist. Wenn wir miteinander quatschen, wechseln wir oft innerhalb eines Gespräches mehrfach die Sprache, ganz spielerisch und nicht, weil uns eine Vokabel fehlt oder so. Trotzdem ist es etwas anderes, mit einem Muttersprachler oder einer Muttersprachlerin zu sprechen.
Und dann war da diese Mittwochsrunde im November 2014. Unser Gastgeber Franz-Josef Hanke stellte uns seine Praktikantin Vor. Diese junge Frau, so stellte sich heraus, hatte in den Niederlanden ein Jahr verbracht und sprach niederländisch. Und als ob das nicht genug wäre erzählte sie mir, sie habe mit einigen anderen Studentinnen einen Niederländischstammtisch in Marburg gegründet. Immer wieder seien auch Studenten und Studentinnen aus den Niederlanden dabei, die in Marburg deutsch studierten, oder zumindest ein oder zwei Semester hier verbrachten. Ich war baff und erfreut, aber leider dauerte es noch bis Anfang 2015, bis ich zum ersten mal an diesem Niederländischstammtisch teilnehmen konnte.
Jeden Donnerstag um 20 Uhr treffen wir uns im Caveau, einer kleinen Kneipe in der marburger Oberstadt, wo man uns einen Platz reserviert. Offenbar haben sie dort Erfahrung mit Sprachstammtischen, es gibt ein französisches Pendant zu unserer Veranstaltung. Dort sitzen wir dann in froher Rund und plaudern fröhlich auf niederländisch vor uns hin.
So hatte ich mir das zumindest vorgestellt, aber ganz so einfach ist es nicht. Es geht schon mit den Problemen los, die ich immer mit einer Gruppe sehender Menschen habe: Ich kann keinen Blickkontakt aufnehmen, kann mich nicht mit den Augen in ein Gespräch einschalten. Außerdem bin ich natürlich erst einmal für alle der Blinde, ohne dass sie das böse meinen. Wenn ich erzähle, dass ich Journalist bin, ist das etwas Besonderes, nicht etwas normales. Ich muss auch etwas klamm und schwerfällig wirken: Bis heute bin ich froh, wenn wir uns an einem Ort treffen, den wir alle kennen, und gemeinsam zum Caveau gehen, denn obwohl ich den Weg im Groben inzwischen kenne, komme ich bislang noch nicht allein dorthin. Das verstärkt sicher den Eindruck meiner Hilflosigkeit. Dabei müsste ich mir nur einfach mal einen Nachmittag Zeit nehmen und den Weg allein und langsam gehen, bis ich mir Anhaltspunkte erarbeitet habe. Und dann sitze ich zwischen den Anderen um einen mehr oder minder gemütlichen Kneipentisch. Ich habe schon oft mit einigen Leuten zusammengesessen, die niederländisch sprachen, und ich habe mich am Gespräch beteiligt. Aber mir ist ein gravierender Unterschied aufgefallen: Es gab so gut wie keine Nebengeräusche. Das ist in der Kneipe anders, und hier macht sich mein teilweise schlechteres Gehör bemerkbar. In der Muttersprache ist es leichter auszugleichen, als in einer fremden, oder sagen wir, anderen Sprache, selbst wenn man sie recht gut kennt. Einige achten schon darauf und sprechen mich zwischendurch an, aber der normale, frisch-fröhliche Austausch, den ich mir erhoffte, findet bislang nur statt, wenn ich mit einer oder zwei Personen allein spreche. Ich habe mir schon überlegt, die ganze Runde mal zum Kaffee einzuladen. In ruhiger, zwangloser Atmosphäre wäre es sicher einfacher.
Es gab Zeiten, da hätte ich wegen solcher Schwierigkeiten das Handtuch geworfen und wäre nicht mehr hingegangen. Davon bin ich heute weit entfernt, zumal ich ja durchaus merke, dass sie auf mich Rücksicht nehmen wollen. Manchmal ärgert es mich nur maßlos, dass das überhaupt notwendig ist.
Zwei, manchmal drei, Stunden sitzen wir in netter Runde zusammen. Die meisten TeilnehmerInnen sind StudentInnen, und sie berichten von ihrem Uni-Alltag, von ihren Reisen, von ihren Sprachen, die sie mögen und sprechen. Es ist ein schönes Klima. Ich bin bei weitem der Älteste in der Runde. Wenn ich sie nach niederländischen Liedermachern wie Robert Long, Frank Boeijen und Rob de Nijs frage, haben sie diese Namen „… vielleicht …“ schon mal gehört. Damals, zu meiner Zeit, als ich in den Niederlanden fast die Hälfte des Jahres verbrachte, waren das große Namen. Einige können aber mit moderneren Gruppen wie BLØF etwas anfangen. Wenn ich über damalige Politiker rede oder über bekannte Radioleute wie Frits Spits, könnten sie auch aus einem fremden Land stammen, denke ich manchmal. Die Niederlande von heute, und das ist auch spannend, sind nicht unbedingt mehr die Niederlande, die ich kannte. Wenn ich dort bin, spreche ich meist mit älteren Menschen, das hat sich so ergeben. Die Truppe in meinem Stammtisch ist jung und lebt hier und heute, und längst nicht nur in ihrer Heimat.
Es gefällt mir gut, dass wir uns den ganzen Abend über in niederländischer sprache unterhalten. Alle versuchen wir, was wir zu sagen haben in niederländisch zu sagen, weichen eigentlich nie auf das deutsche aus. Manchmal müssen dann Dinge umschrieben werden, wir helfen uns gegenseitig mit Worten aus. Dabei merke ich dann oft, dass ich immer noch viele Vokabeln und ihre Übersetzung kann, vor allem, dass diese Übersetzung die aus der Lebenswirklichkeit ist, nicht die aus dem Wörterbuch. Einmal war ein Niederländischdozent bei uns. Nachdem ich mich einige Minuten mit ihm unterhielt, meinte er: „Du verwendest das Füllwort „nou“ (so was wie „nun“ oder „naja“) intuitiv vollkommen richtig, du sprichst die Sprache, ohne dabei nachdenken zu müssen.“ Ein schönes Kompliment, wenn es auch nicht ganz zutrifft, ich muss immer mal wieder nach Vokabeln suchen.
Mir gefällt unser Donnerstagsstammtisch, ich wünschte nur, ich könnte alle besser verstehen und mich mehr einbringen, nicht vor allem der sein, den man mitnehmen und zum Bus bringen muss, und den man direkt ansprechen muss, wenn man was von ihm will. Ich bin einer von mehreren, die sich zu diesem Stammtisch treffen. Irgendetwas verbindet uns alle mit dem Land oder der Sprache, die wir da gemeinsam sprechen. So eine Konversationsgruppe böte auch Gelegenheit, uns gegenseitig unseren Alltag nahezubringen, und zwar auf niederländisch. Aber während viele der Anderen einen Teil des Uni-Alltags teilen, falle ich da völlig raus. Sicher: Ich habe schon mal vom Ohrfunk erzählt, oder dass ich ein politisches Blog betreibe, aber in der netten, aber lauten Atmosphäre fällt es mir häufiger schwer, richtig in ein Gespräch zu kommen. Dabei hätte ich einige Fragen: Wie empfinden sie Deutschland im Gegensatz zu den Niederlanden heute, warum wollen sie gerade hier her? Können sie eigentlich mit dem modernen Königtum in ihrer Heimat etwas anfangen, oder freuen sie sich nur über ein Volksfest am Königstag? Mich interessieren auch so fragen wie die Meinung meiner
GesprächspartnerInnen zur Sterbehilfe in den Niederlanden, zum Neoliberalismus, der dort auch stark ausgeprägt ist, seit die Regierung von den Liberalen geführt wird, zum modernen Europa und zur Frage des Rechtspopulismus. Oder: Warum besetzen in Amsterdam StudentInnen ihre Uni? Was geschieht da gerade? Alles Fragen, die ich interessant finde. – Nun: Es gibt ja noch viele Donnerstage, und vielleicht lade ich sie ja doch einfach mal zum Kaffee ein. Es liegt auch und vor allem an mir, mich mehr einzubringen, denn normalerweise bin ich nicht dafür bekannt, besonders still zu sein. Schön finde ich jedenfalls, dass es diesen Stammtisch gibt. Es ist ein kleiner Urlaub in der Woche.