Ich muss zugeben, ich bin zutiefst erschüttert über die Ermittlungen gegen die Blogger von Netzpolitik.org wegen Landesverrats. Nie zuvor habe ich in der Bundesrepublik Deutschland eine so offensichtliche, unhaltbare und rechtswidrige Einschüchterung und Beeinträchtigung der Pressefreiheit und der freien Meinungsäußerung erlebt. Geheimdienste, Justiz und Regierung gehen unter den Augen der Öffentlichkeit gegen die Bürgerrechte vor, wie man es vielleicht in Russland erwarten könnte, aber nach der Spiegelaffäre im Jahre 1962 nicht mehr in Deutschland. Dabei gibt es immer noch Menschen, die der Meinung sind, die Betreiber von netzpolitik.org hätten sich tatsächlich strafbar gemacht, indem sie Staatsgeheimnisse offenbart hätten. In vielen unterschiedlichen Beiträgen im Internet wird dem widersprochen. Ich möchte versuchen, diese Argumentation allgemein verständlich zusammenzufassen, um zu verdeutlichen, dass hier ein massiver Angriff gegen unsere Bürgerrechte vorliegt.
Die Internetplattform netzpolitik.org veröffentlichte im Frühjahr 2015 zwei Dokumente, in denen das Bundesamt für Verfassungsschutz eine Konzeption für eine neue Abteilung entwirft, die die Internetüberwachung massiv erhöhen soll. Auch geht es um die finanzielle Ausstattung dieser neuen Abteilung. Wohl gemerkt: Es geht um die Ausspionierung der eigenen Bürger auf fragwürdiger rechtlicher Grundlage, denn auch der Verfassungsschutz darf nicht jeden einfach so und ohne Grund ausspionieren. Diese Pläne haben die Blogger Markus Beckedahl und André Meister öffentlich gemacht. Ist das Landesverrat? Landesverrat nach §94 des Strafgesetzbuches begeht, wer Staatsgeheimnisse „an einen Unbefugten gelangen läßt oder öffentlich bekanntmacht, um die Bundesrepublik Deutschland zu benachteiligen oder eine fremde Macht zu begünstigen, und dadurch die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland herbeiführt.“ Man kann sich schon hier fragen, welchen Schaden die Sicherheit der BRD nehmen wird, wenn bekannt wird, dass die Bundesbürger vom eigenen Geheimdienst gesetzwidrig massiv ausspioniert werden sollen. Das begünstigt weder Russland noch China, und die Blogger von Netzpolitik.org hatten auch sicher nicht im Sinn, dem Land zu schaden, sondern eher, ihm zu nutzen und seine demokratische Verfassung zu erhalten. Sodann ist zu klären, ob es sich bei den Dokumenten tatsächlich um Staatsgeheimnisse handelt. Staatsgeheimnisse nach §93 des Strafgesetzbuches sind „Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse, die nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich sind und vor einer fremden Macht geheimgehalten werden müssen, um die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland abzuwenden.“ Die veröffentlichten Dokumente müssen nach der Meinung des Verfassungsschutzes vor allem vor der eigenen Bevölkerung geheimgehalten werden, weil es sich um verfassungswidrige Ausspähungen handelt. Wenn diese Ausspähungen dann noch dazu gedacht sind, um an die NSA weitergegeben zu werden, könnte man sogar dem Verfassungsschutz selbst Landesverrat unterstellen, weil er eine fremde Macht begünstigt und auch Staatsgeheimnisse an sie verrät, zum Nachteil der BRD. Aber selbst wenn man zu der Entscheidung käme, dass es sich um geheimes Material handelt, was kaum jemand tut, ist eine Veröffentlichung solcher Geheimnisse nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anders zu bewerten als gewöhnlicher Verrat. In einem Urteil von 1966 führte das Gericht aus: „Die Frage der Geheimhaltungsbedürftigkeit einer militärischen Tatsache darf ebensowenig wie die Gefährdung des Wohles der Bundesrepublik im konkreten Fall allein nach dem Interesse der militärischen Führung an der Geheimhaltung beurteilt werden. Vielmehr ist diesem gewiß sehr wesentlichen Interesse gegenüberzustellen das sich aus dem demokratischen Prinzip ergebende Anrecht der Öffentlichkeit an der Information und Diskussion der betreffenden Fakten; hierbei sind auch die möglichen heilsamen Folgen einer Veröffentlichung in Rechnung zu stellen. So kann etwa die Aufdeckung wesentlicher Schwächen der Verteidigungsbereitschaft trotz der zunächst damit verbundenen militärischen Nachteile für das Wohl der Bundesrepublik auf lange Sicht wichtiger sein als die Geheimhaltung; die Reaktion der Öffentlichkeit wird die zuständigen Staatsorgane normalerweise veranlassen, rechtzeitig für Abhilfe zu sorgen.“ Auch wenn es im konkreten Fall um militärische Geheimnisse ging, ist das mit den Geheimnissen der Geheimdienste vergleichbar. Damit steht fest, was auch viele Juristen deutlich sagen: Es liegt kein Landesverrat vor, und die Dokumente sind nicht einmal wirkliche Staatsgeheimnisse.
Wenn aber dies alles so eindeutig ist, so werden viele Menschen zurecht fragen, warum hat dann eine Behörde wie die Bundesanwaltschaft, die ja mit hervorragenden Juristen besetzt ist, trotzdem Ermittlungen gegen die Journalisten aufgenommen? Markus Beckedahl, der Betreiber von netzpolitik.org, kommentiert dazu: „Wir sehen das weiterhin als massiven Einschüchterungsversuch, der nicht nur gegen uns, sondern gegen alle kritischen Journalisten und Blogger gerichtet ist, die Licht ins Dunkel des Überwachungskomplexes bringen wollen. Und es ist klar ein Einschüchterungsversuch gegenüber allen potentiellen und realen Quellen in Behörden und im politischen Berlin. Und das ist ein Angriff auf die Pressefreiheit.“ Vermutlich geht es dem Verfassungsschutz vor allem um die Quellen. Wer aus dem Kreis derer, die die Dokumente kannten, hat sie an netzpolitik.org weitergegeben? Waren es Leute aus dem Verfassungsschutz selbst, oder waren es vielleicht
Bundestagsabgeordnete aus dem parlamentarischen Kontrollgremium? Normalerweise werden die Geheimdienste vom Parlament kontrolliert, damit sie verfassungsgemäß handeln. In Wirklichkeit findet eine effektive Kontrolle überhaupt nicht mehr statt. Der Verfassungsschutz bricht massiv die Verfassung, indem er zum Beispiel rechten Mördern wie dem NSU hilft, und kommt damit durch, das Parlament ist machtlos. Vielleicht gibt es Abgeordnete, die noch demokratischen und bürgerrechtlichen Idealen verpflichtet sind und deshalb die Schweinereien einer Behörde aufdecken, die eigentlich dazu da sein sollte, die Verfassung zu schützen, anstatt sie auszuhöhlen und zu beseitigen. Um diese Quellen zu finden, muss der Verfassungsschutz alle Register ziehen, zum Beispiel die Kommunikation zwischen netzpolitik.org und ihren Quellen überwachen. Der Rechtsanwalt Markus Kompa vermutet, dass der Vorwurf des Landesverrates erhoben wurde, um eine Überwachung mit Mitteln der Vorratsdatenspeicherung zu ermöglichen. Die ist zwar noch nicht wieder inkraft, aber das wird ja nicht mehr lange dauern. Insofern könnte man vermuten, dass das Verfahren gegen netzpolitik.org vorläufig weitergeführt werden wird.
Wie Deutschland inzwischen von außen gesehen wird, erkennt man eindrucksvoll an einem Beitrag der österreichischen Bloggerin Susannah Winter. Für sie ist die Ermittlung ein Verrat an demokratischen Grundrechten. Sie schreibt: „Nun kann es eigentlich nicht verwundern, dass in einem zunehmend nach rechts rückendem Staat, dessen Ausbau der Bürgerüberwachung, Abschottung nach außen, Abbau des Sozialstaates und vormaliger Bürgerrechte auch der Vorwurf des Landesverrates erneut als staatliches Mittel der Allmacht eine neue Rolle spielen soll. … Jeder Bürger dieses Landes hat den Verfassungsschutz in den letzten Jahren als inkompetentes Bürokratiemonstrum erlebt, dessen V-Leute tiefer in den rechten Sumpf verstrickt waren, als man es je für möglich gehalten hätte. … Der Vorwurf des Landesverrates ist schwerwiegend und er darf nicht dazu führen, dass die wenigen Journalisten, die noch wagen, sich kritisch zu äußern, dies in Angst um ihre Freiheit tun müssen.“ Für mich steckt in diesem Beitrag die ganze erschreckende Wahrheit über den Zustand unseres Landes: Eine freie Meinung und demokratische Gesinnung kann nur gedeihen, wo die Kommunikation frei ist. Die wird aber zunehmend eingeschränkt. Wer sich dagegen wehrt, wie die Journalisten von netzpolitik.org, wer also durchaus strafrechtlich relevantes Verhalten von Behörden aufdeckt, wer Demokratie und kritischen Journalismus lebt, der wird mit der Keule der Justiz ganz öffentlich eingeschüchtert. Wenn man auch diese kritischen Stimmen noch nicht vollständig zum Schweigen bringt, so unterdrückt man doch die freie Diskussion unter denen, die nicht so stark und unbeeinflussbar sind wie Markus Beckedahl und André Meister. Wer mehr Angst vor Repressalien hat, schweigt nun still. Wenn wir hier in Mittel- und Westeuropa von einem Polizei- und Unterdrückungsstaat reden, dann müssen wir uns darunter nicht Nordkorea, Südamerika oder Zentralafrika vorstellen. Ungarn, Russland und Serbien genügen: Länder mit Mehrparteiensystemen, offiziell funktionierenden demokratischen Institutionen und einer mehr oder weniger freien Presse. Auf das „Mehr oder weniger“ kommt es hier an. Deutschland ist eine offiziell voll entwickelte Demokratie. Woran wir hier am meisten kranken ist die politische und kritische Kultur in der Bevölkerung. Unsere Institutionen sind gut ausgebaut, aber unsere politische Kultur ist noch von altem Hörigkeitsdenken durchsetzt. Darum kann man in Deutschland kritische Stimmen leichter einschüchtern als in manch anderem Land. Vor Jahren wurde der kritische Blogger marcel Bartels, der all seine Anschuldigungen gegen Politiker, die die Verfassung verletzten, mit offiziell zugänglichen Dokumenten und Aussagen belegen konnte, durch hunderte von Unterlassungsklagen mundtot gemacht und in die Knie gezwungen. Verhaftet und ins Gefängnis geworfen wurde er nicht. Und kein Aufschrei ging durch das Land, als diese kritische Stimme verstummte. Auch gegen den Landesverratsvorwurf gegen netzpolitik.org gab es kaum nennenswerte Proteste: 2000 Leute kamen zu einer Kundgebung nach Berlin, 100 nach Frankfurt und 100 nach Karlsruhe. Vor 30 Jahren wären wegen der Nato-Nachrüstung 2 Millionen gekommen.
Deutschland kann seine Demokratie nicht retten, wenn die Bürger kein Interesse an ihr haben. Insofern ist die Reaktion der einfachen Bürger auf die Ermittlungen wegen Landesverrat auch ein erschreckender Gradmesser für den Zustand unserer demokratischen Kultur.
Insgesamt 2200 Menschen auf der Straße sind nun wahrlich nicht viel. Vielleicht ist die Bevölkerung Demonstrationsmüde geworden. Vielleicht hat sich aber auch das Gesicht verändert. Denn auf Campact.de war ich die 97912. Unterstützerin, die sich für das Ende der Ermittlungen gegen die beiden Journalisten einsetzt. An die sechzigtausend waren es bei Change.org.
Mich stinkt an der Sache an, dass man wieder versucht, das Problem auszusitzen und zu hoffen, dass es demnächst durch aktuellere Berichte verdrängt wird. Denn nun hat man ja einen Prügelknaben gefunden. Nicht, dass ich Herrn Range in Schutz nehmen möchte, aber wie Markus Beckedahl kommentiert, es ist einer der richtigen gegangen worden. Einer von mehreren.