Regierungsbildung in den Niederlanden: Vertrauen in die Zukunft

Der Populismus ist besiegt, jubelte ganz Europa nach den Wahlen in den Niederlanden am 15. März, und dann wandte man sich wieder den eigenen Sorgen zu. Dabei hinterließen die Wahlen die Niederlande in einer schweren Krise. Wie sollte eine Regierung gebildet werden können? In meinen bislang vier Beiträgen zu diesem Thema habe ich die ersten 151 Tage der Regierungsbildung verfolgt. In diesem Beitrag möchte ich die letzten Wochen kurz darstellen.

Mitte August endlich sagten alle vier Parteien, die an den Verhandlungen teilnahmen, öffentlich, dass es Fortschritte gegeben habe. Alles Andere blieb spekulation, gesagt war alles bereits. Natürlich fiel das demissionäre Kabinett nicht wegen der Bezahlung der Grundschullehrer, wie die Sozialdemokraten kurzfristig angedroht hatten, natürlich wurden die Verhandlungen nicht abgebrochen, als eine abgelehnte Asylbewerberin aus Armenien abgeschoben wurde, deren Kinder allerdings vorläufig im Land bleiben durften. Die D66 nannten diese Entscheidung unmenschlich, doch sie ließen die Gespräche nicht platzen. Das hätte zu einem früheren Zeitpunkt passieren können, nun aber nicht mehr. Während der letzten zwei Monate der Verhandlungen stürzte noch die Verteidigungsministerin wegen Fehlern beim Mali-Einsatz, die zum Tod zweier Soldaten geführt hatten. Sie hatte gehofft, im nächsten Kabinett Außenministerin zu werden, zog sich aber vorläufig zurück. Der beliebte amsterdamer Bürgermeister Eberhard van der Laan, Mitglied der sozialdemokratischen PVDA und bekennender Republikaner, starb an Krebs, er hatte bis zur letzten Woche seines Lebens die Amtsgeschäfte weitergeführt. Nichts hielt den Zug mehr auf, die 4 Parteien waren und sind zu einem Kompromiss verurteilt. Man einigte sich mit der noch amtierenden Regierung tatsächlich auf eine Erhöhung der Lehrergehälter, wenn auch die genaue Höhe einem Nachtragshaushalt vorbehalten blieb.

Noch immer lautete die Hauptfrage, wie man mit den schwierigen Fragen der ethisch-medizinischen Agenda umgehen sollte. Am Ende war das Ergebnis nicht besonders überraschend: Anfang September wurde publik, dass man wohl eine Kommission bilden werde, die diese Frage genauer untersuchen soll. Und nicht nur diese Frage, sondern auch die der Mehrpersonenelternschaft. Immer mehr Familien, seien sie polyamourös oder Homofamilien mit außerfamiliärem Vater oder Mutter, teilen sich die Erziehung der Kinder zu dritt oder sogar zu viert. Diese Lebensform scheint sogar einigermaßen zu funktionieren, wie die Kinder solcher Familien immer häufiger öffentlich wissen lassen. Es handelt sich dabei nicht mehr nur um eine Randerscheinung in den großen Städten der Niederlande, deshalb wird seit mehreren Jahren darum gerungen, die Partner der leiblichen Eltern den Eltern gleichzustellen. Die D66 hätten dazu gern einen Gesetzentwurf eingebracht, ein entsprechender Antrag war auch schon mal fast durchs Parlament, doch mit der Christenunie ist das gar nicht und mit dem CDA nur schwer durchzusetzen. Künftig sollen alle Schüler die Nationalhymne singen und mehr über das Vaterland lernen, der Zustrom von Flüchtlingen soll begrenzt werden, das Asylrecht will man aber nicht antasten, auch so ein Kompromiss. Die Mehrwertssteuer auf Grundnahrungsmittel steigt von 6 auf 9 %, das Steuersystem soll überhaupt vereinfacht werden, und hohe und mittlere Einkommen werden steuerlich entlastet. Natürlich wird mehr Geld für Verteidigung, Sicherheit und Polizei zur Verfügung gestellt. Außerdem wird künftig unter staatlicher Aufsicht eine gewisse Menge Haschisch angebaut, das ja in den Niederlanden nicht vollständig verboten ist. Und schließlich soll es verstärkt Anstrengungen für das Klima geben, weniger durch harte Maßnahmen, als vielmehr durch Anreize für die Wirtschaft.

Dies alles wurde im September so langsam bekannt, während die Parteien offiziell noch immer verhandelten. Das hatte, wie schon einmal beschrieben, auch mit dem Prinsjesdag zu tun, an dem traditionell der Haushalt ins parlament eingebracht wird. Da das neue Kabinett noch nicht gebildet war, konnte es auch noch keinen neuen Haushalt veröffentlichen, also ließ man die alte Regierung ein paar Wochen länger im Amt. Damit wurde sie die Regierung, die nach dem zweiten Weltkrieg am längsten amtierte, fast fünfeinhalb Jahre.

Am 10. Oktober hatte die Qual ein Ende, das Regierungsprogramm unter dem Titel „Vertrauen in die Zukunft“ wurde veröffentlicht. Alle waren mehr oder weniger zufrieden. Zunächst wurde es hinter verschlossenen Türen den einzelnen Fraktionen vorgelegt, die dem programm zustimmen mussten. Das ist immer ein heikler Punkt. Nur 8 Menschen haben verhandelt, 76 müssen dem Gesamtwerk aber ihren Segen geben, und zwar Menschen aus den unterschiedlichsten Parteien. Oft schweißt der Druck der politischen Verhältnisse sie zusammen, in der Regel können sie am ausgehandelten Ergebnis nichts mehr ändern, das Regierungsprogramm wird ihnen sozusagen von den Verhandlern mehr oder weniger diktiert. Doch hätte sich eine Fraktion quergestellt, hätte man die Verhandlungen in letzter Minute für gescheitert erklären müssen. Doch dies geschah auch diesmal nicht, obwohl es so große Unterschiede zwischen den Parteien gibt. Natürlich verriss die Opposition bei der Debatte im Parlament das Regierungsprogramm, doch die neue Koalition äußerte sich einhellig und zeigte Geschlossenheit.

Damit ist in den Niederlanden die Regierungsbildung allerdings noch nicht beendet. Das parlament dankte dem bisherigen Informateur Gerrit Zalm für seine Arbeit und benannte Mark Rutte zum sogenannten Formateur. Ihm oblag es nun, die Regierung zusammenzustellen. Das geschieht nach einem seit Jahrzehnten eingeübten Prozedere. Die Unterhändler hatten sich schon auf die Anzahl der Ministerposten geeinigt, die jeder Partei zustehen sollten. 6 für die VVD, 4 für CDA und D66 und 2 für die Christenunie. Die von den Parteien benannten Kandidaten werden vom künftigen Regierungschef empfangen und müssen einen Fragebogen nach ihren bisherigen Tätigkeiten und möglichen Konflikten mit dem Gesetz ausfüllen. Sie sollten in diesem vertraulichen Gespräch alles offenlegen, was ihnen später Probleme verursachen könnte, wenn es an die Öffentlichkeit kommt. Es gibt Fälle, in denen durch eine solche Offenheit im Gespräch Regierungskrisen später verhindert wurden, wenn der Premier sagen konnte: jawohl, das habe ich gewusst, ich erachte es nicht als so schwerwiegend. Aber es hat auch Fälle gegeben, wo trotz sorgfältiger Prüfung Minister doch noch Leichen im Keller hatten und schon kurz nach ihrer Vereidigung zurücktreten mussten. Zweimal waren Minister sogar nur wenige Stunden im Amt. Diese Phase der Suche nach Ministern und Staatssekretären dauerte noch einmal knapp zwei Wochen. Dann waren alle Gespräche geführt, und der entscheidende Tag brach an. Interessant war, dass die Vorsitzenden der Fraktionen von CDA, D66 und Christenunie, SybrandBuma, Alexander Pechtold und Gert-Jan Segers, nicht in die Regierung wechselten, sondern als Abgeordnete im parlament blieben.

Am 26. Oktober 2017 traf sich die neue Regierung, die noch nicht amtierte, zu ihrer konstituierenden Sitzung. Dort unterschrieben alle Minister das Regierungsprogramm und erklärten ihre Bereitschaft, dem Kabinett beizutreten. Daraufhin fuhr die ganze Gruppe, 16 Minister und 10 Staatssekretäre, zum Palast Noordeinde, wo König Willem-Alexander residiert. Erstmals wurde die Zeremonie vollständig im Fernsehen übertragen. Man hielt sie bislang für eine Art heilige handlung, wie das Salben eines Königs, eine Art intimer Moment mit dem Staatsoberhaupt. Doch die Öffentlichkeit wollte auch die Vereidigung sehen, also entschlossen sich Regierung und König, die Tradition zu ändern. Zunächst wurden vom König die Anordnungen unterzeichnet, mit denen das alte Kabinett entlassen und das neue Kabinett gebildet wurden. Die Namen der Ministerien wurden zum Teil neu festgelegt und ihre Zuständigkeiten bestimmt. Dann stellte der alte und neue Ministerpräsident seine Mannschaft dem König vor. Er nannte Namen und neuen Titel, der König sagte: „Sehr erfreut“, und die Minister sagten meistens: „Majestät“, und das wars. Dann las der Direktor des Kabinetts des Königs, der Leiter seines Amtes, mit dem Leiter unseres Bundespräsidialamtes vergleichbar, die Eidesformel vor:
„Ich schwöre (oder erkläre), dass ich, um zum Minister (oder Staatssekretär) ernannt zu werden, weder mittelbar noch unmittelbar, unter welchem Namen oder Vorwand auch immer, ein Geschenk oder eine Vergünstigung vergeben oder versprochen habe.
Ich schwöre (oder erkläre und verspreche), dass ich, um etwas bestimmtes in meinem Amt zu tun oder zu unterlassen, weder mittelbar noch unmittelbar irgendein Geschenk oder ein Versprechen angenommen habe oder annehmen werde.
Ich schwöre (oder verspreche) Treue gegenüber dem König, dem Statut des Königreichs und der Verfassung.
Ich schwöre (oder verspreche), dass ich die Pflichten, die mein Amt mir auferlegt, getreulich erfüllen werde.“
Diese Eidesformel habe ich wörtlich übersetzt, obwohl man sie im Beamtendeutsch hätte vereinfachen können. Ich wollte damit zeigen, dass die niederländische Sprache in solchen Dingen recht umständlich ist, aber keine besonders schöne Amtssprache besitzt. Das Statut des Königreichs ist übrigens das Grundgesetz, das die Verhältnisse zwischen den Niederlanden und den wenigen Überseegebieten regelt, die das land noch hat.
Einer nach dem Anderen traten die Minister und Staatssekretäre nun vor und sagten entweder: „so wahr mir Gott helfe“, oder „das erkläre und verspreche ich“. Das war alles. Während der gesamten Zeremonie sprach der König kein einziges Wort, er stand nur dort, wo die Minister ihre Eidesformel sprachen.

Der letzte Akt in der Regierungsbildung ist die sogenannte Treppenszene. Sie findet eine viertel Stunde nach der Vereidigung statt. Die Minister nehmen daran teil, jedoch nicht die Staatssekretäre. Das Kabinett tritt nach draußen auf die treppe des Palastes für das offizielle Regierungsfoto. Der König steht in der Mitte der ersten Reihe, der Ministerpräsident rechts neben ihm, die Vizeministerpräsidenten, von jeder Partei einer, gruppieren sich darum, außerdem die Inhaber der ältesten Ministerien, Justiz und Auswärtiges. In der zweiten Reihe stehen die anderen Minister. Trug man bei der Vereidigung Anzug mit Krawatte bzw. ein langes Kleid, geht man in ministerieller Arbeitskleidung auf die Treppe, also ohne Krawatte in gewöhnlichen Manager- oder Politikeranzügen. Das Kabinett steht rund eine Minute auf der Treppe, die versammelte Presse schießt Fotos, dann treten sie durch die Tür zurück in den Palast. Das neue Kabinett amtiert.

Die Minister fahren dann zu ihren neuen Arbeitsstätten, wo sie vom alten Minister empfangen werden, ein Übernahmeprotokoll ausfüllen und unterzeichnen und erstmals die Mitarbeiter begrüßen. Am Abend findet eine Fernsehsendung mit dem gesamten Kabinett statt, in der sich jeder Minister und jede Ministerin der Öffentlichkeit vorstellt und erste Fragen beantwortet. Damit ist die Periode der Regierungsbildung abgeschlossen.

Viele spekulieren, ob diese unter so großen Schmerzen zustandegekommene Regierung in der Lage ist, die ganzen 4 jahre bis zur nächsten Wahl durchzuhalten. Sie hat in beiden Parlamentskammern nur eine Mehrheit von einem Sitz. So oder so muss man die nächste Wahl fürchten. Denn wenn es nicht gelingt, die gespaltene Gesellschaft wieder zu versöhnen, wird der Populismus auch in Zukunft weiteren Zulauf erhalten. Mein „Vertrauen in die Zukunft“ ist da eher begrenzt.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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