Heute wird das Grundgesetz 70 Jahre alt. Es war als Übergangsverfassung bis zur deutschen Wiedervereinigung gedacht, und gerade deshalb hat man es pragmatisch schlicht formuliert. Und genau diese Schlichtheit, Klarheit und Eindeutigkeit gibt ihm seine besondere Kraft. Für mich ist das Grundgesetz die Richtschnur meines Handelns.
Der Kabarettist Philipp Simon fragte in seinem letzten Programm, ob man die 10 Gebote kenne, und ob man auch 10 Artikel aus dem Grundgesetz nennen könne. Er kam zu dem Schluss, dass viele zwar mindestens einige der 10 Gebote kennen, aber beim Grundgesetz fällt den Meisten nur ein Satz ein: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und die meisten Zyniker, die sich für Realisten halten, fügen diesem satz merkwürdig triumphierend hinzu: „Dabei wird die Menschenwürde jeden Tag tausendfach angetastet, der Satz ist also nur Schall und Rauch.“ Dann lehnen sie sich zufrieden zurück und sonnen sich in dem Gefühl, recht gehabt zu haben.
Doch sie irren sich! Sie haben die Wortgewalt und die Symbolkraft dieses bekanntesten Satzes aus dem Grundgesetz einfach nur nicht verstanden!
Natürlich wird die Würde des Menschen immer wieder angetastet. Das bestreitet auch niemand. Insofern ist sie auch ganz praktisch antastbar. Doch zum einen darf und soll sie nicht angetastet werden, und zum Anderen ist die Würde des Menschen im Verständnis des Grundgesetzes der Wesenskern jeder einzelnen Person und damit per Definition unangreifbar. Die Menschenwürde ist schützenswertes Gut und unverlöschbarer Kern der Persönlichkeit zugleich, nicht antastbar als Gebot und als Beschreibung gleichermaßen. Dieser einfache Satz spiegelt die Utopie des Gesetzes und die Heiligkeit der Person wieder. Er ist Ziel und Zustand in einem.
Wem das zu hoch ist, der halte sich an die Prosa, die das Grundgesetz allen vorherigen Verfassungen überlegen macht. Denn, so steht es ebenfalls im Artikel 1, die aufgeführten Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Sie sind einklagbar und selbst einfaches Gesetz. Das gilt zumindest für die klar formulierten Rechte ab Artikel 8: Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Streikrecht, Brief-, Post-
und Fernmeldegeheimnis mit Einschränkungen, Freizügigkeit im Bundesgebiet, Berufsfreiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung mit Einschränkungen, Eigentumsrecht, Verbot der Auslieferung, Asylrecht mit Einschränkungen und Petitionsrecht. Diese Rechte sind so klar gefasst, dass sie an sich schon Gesetzeskraft entfalten: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne vorherige Anmeldung friedlich und ohne Waffen zu versammeln (Artikel 8).“ Jeder weiß: Waffen sind verboten, ich muss Frieden halten, aber wenn ich das tue, darf ich mich versammeln und demonstrieren. Wir dürfen Gewerkschaften und Vereine gründen, für unsere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne streiken und so weiter. Früher waren diese Rechte nur Erklärungen, Zielvorgaben, wünschenswerte Träume, jetzt sind sie einklagbare Rechte.
Theoretisch ist es mit den anderen Grundrechten ebenso: Freiheit der Person, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichberechtigung der Geschlechter, Diskriminierungsverbot, glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, Kriegsdienstverweigerungsrecht, Meinungs-, Presse- und forschungsfreiheit, Elternrecht und Schulwahl. Doch je allgemeiner und umfassender die Rechte sind, desto schwerer sind sie umzusetzen. Ihre Durchsetzung und ihre Anwendung sind eine fortgesetzte Anstrengung, das Grundrechteparadies werden wir nie erreichen. Wer auf das Ende der Geschichte, auf einen Zustand völliger grundrechtlicher Freiheiten hofft, der muss enttäuscht werden. Grundrechte werden immer wieder erkämpft werden müssen, Tag für Tag. Doch dieser Kampf geht ohne Folter, Krieg und Tod, auf geordneten Wegen und mit Möglichkeiten vor sich, die Bürgerinnen und Bürger in anderen Ländern oft nicht oder nur teilweise besitzen, und die frühere Verfassungen nicht gewährleisteten.
Grundrechte stehen im Grundgesetz am Anfang, nicht am Ende des Verfassungstextes. Sie sind nicht, wie in Weimar, per Verordnung oder einfachem Gesetz aufheb- oder aussetzbar. Sie sind unmittelbar geltendes Recht und sind auch dann anzuwenden, wenn sie nicht durch einfache Gesetze konkretisiert werden. Keine Regierung kann sie uns einfach nehmen, keine Notverordnung kann sie außer Kraft setzen. Sie sind so selbstverständlich geworden, dass wir uns ihrer Kostbarkeit oft nicht bewusst sind und sie durch sinnlosen Leichtsinn aufs Spiel setzen, wenn wir die Kräfte stärken, die an der allgemeinen Gültigkeit der Grundrechte für alle Menschen rütteln wollen, die wieder ein Mehrklassenrecht im Bezug auf die Grundrechte einführen wollen.
Unser Grundgesetz hat aber noch andere bemerkenswerte Eigenschaften. Es baut den Staat auf die Säulen der Demokratie, der Republik, des Rechtsstaates, des Bundesstaates und des Sozialstaates. Diese grundgesetzlichen Gebote werden mal mehr, mal weniger gut erreicht und ausgefüllt. Auch sie sind nicht voll verwirklicht, aber wir leben in einem Land, in dem ein Teil des Alltages darin besteht, dass wir uns dieser Gebote bewusst sind und für sie kämpfen und eintreten und sie für uns einfordern können. Sie sind Recht und Pflicht des Einzelnen, Angebot zur Teilhabe und Verpflichtung zu ihrer Ausgestaltung.
Desweiteren hat das Grundgesetz es im Wesentlichen vermocht, die Macht zwischen den Staatsgewalten so aufzuteilen, dass keine eine so große Übermacht erringen konnte, dass sie die Anderen unterdrückte und zu sehr einschränkte. Bund und Länder, Verfassungsgericht und Regierung, sie halten sich gegenseitig in Schach, nur der Bundestag sollte seine Aufgaben als unabhängiges Parlament und Kernstück der Verfassungsorgane selbstständiger und selbstbewusster ausüben. Der Weg in eine Diktatur wird einer Partei oder einer Bewegung schwer gemacht. Bei allem Recht, das die demokratische Mehrheit für sich in Anspruch nehmen kann, muss sie doch stets auch die billigen und gerechten Ansprüche der Minderheit berücksichtigen und respektieren.
Für mich ist dieses Grundgesetz, diese stabilste deutsche Verfassung die Richtschnur meines politischen und gesellschaftlichen Handelns. Mögen andere Menschen sich an Religionen halten, mögen sie Philosophen nacheifern. Das ist gut und legitim. Ich bin ein Anhänger des Grundgesetzes und in diesem Sinne ein Verfassungspatriot. Die klaren, deutlichen Gebote und Ziele entfalten für mich Kraft, und ich spüre, wie nah die Mütter und Väter dieser Verfassung noch dem Schrecken der 12 dunklen Jahre waren. Auch das macht dieses Grundgesetz für mich so kostbar.
70 Jahre wird das Grundgesetz alt. Es ist weit davon entfernt, perfekt zu sein, und diesen Anspruch hat es auch gar nicht. Sein großer Vorteil ist aber, dass es anpassbar ist, und doch einen Kernbereich den Veränderungen des Zeitgeistes entzogen hat. Die Ewigkeitsgarantie schützt den Kern der Grundrechte, den Föderalismus, den sozialstaat und die Demokratie, nicht aber die Wirtschaftsordnung und schon gar nicht den Neoliberalismus. Mit seiner Vielfalt, Nüchternheit und seinem Pragmatismus ist das Grundgesetz wandelbar und wertkonservativ zugleich. Es hat immer noch ein großes Potential: Wir müssen es nur nutzen, alle gemeinsam!