Zurück von einem Ausflug in die Politik

Herzlich willkommen, ich bin zurück aus einer längeren Kommentarpause. Zurück aber auch aus einem kurzen Ausflug in die wahre Politik. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich einer politischen Wahl gestellt, sogar auf einem aussichtsreichen Listenplatz, und am Ende habe ich, wie es in einer Demokratie immer geschehen kann, mit zwei Stimmen Abstand verloren.

Schon seit einem Jahr hatte ich überlegt, ob ich mich bei der Kommunalwahl, die vor einer Woche in Hessen stattfand, zur Wahl stellen sollte. Eine Idee wäre, für die Stadtverordnetenversammlung zu kandidieren, doch ich wurde von der Spitze meiner Partei, der SPD, nicht auf die Kandidatenliste gesetzt. Das hat mich nicht sonderlich enttäuscht, ich konnte das gut verstehen: Ich war und bin völlig unbekannt, konnte und kann keinen besonderen Wahlkampf machen und wäre ein absoluter Neuling gewesen. Es war abzusehen, dass die SPD bei der Wahl Sitze verlieren würde, also war der Platz auf der Liste gerade für unbekannte Neulinge knapp. Das wurde also nichts.

Doch im Dezember ergab sich die Möglichkeit, für den Ortsbeirat zu kandidieren. Ein hier am Richtsberg beliebter Arzt verzichtete auf den Platz 2 der Ortsbeiratsliste zu meinen Gunsten. Im Ortsbeirat Richtsberg konnte die SPD von 4 der 9 Sitze ausgehen, die sie ziemlich sicher erringen würde, also stand ich auf einem sehr guten Platz.

Nun war der Ortsbeirat sicher nicht das, was ich mir vorgestellt habe, als ich früher einmal über mein Wirken in der Politik nachdachte. ich interessiere mich für Außenpolitik, für Sozialpolitik, für Verfassungsrecht, für Menschenrechtsarbeit und ähnliche Dinge. Was sollte ich in einem Ortsbeirat? Das war mir doch für einen Moment viel zu konkret.

Und dann wurde mir klar, dass es genau das ist, was echte Politik ausmacht. Wie kriegen wir das Geld für die Kindertagesstätte zusammen? Die Arztpraxen sind nicht barrierefrei, obwohl die Bevölkerung immer älter und kränker wird, was können wir tun? Viele Leute werfen ihren Müll achtlos hinter die Häuser, wenn irgendwo Sperrmüll steht, stellen alle ihren Sperrmüll dazu, der aber nicht mitgenommen wird, weil er fürs Abholen nicht vorgesehen war. Können wir unseren Stadtteil begrünen? Das alte Studentenriesenwohnhaus ist abgebrannt, was kommt da jetzt hin? Überall parken die Autos die Straßen zu: Wo kriegen wir Parkfläche her? Die Mieten steigen ins uferlose: Wie kämpfen wir gegen den Mietenwahnsinn, können wir Mieter*innenbeiräte einrichten, die die Interessen der Mieter*innen vertreten? Der Supermarkt macht zu, wo kann man jetzt noch vernünftig einkaufen? Im Winter sind bestimmte Wege gefährlicher als Andere, wir brauchen eine bessere Busanbindung, die Hauptstraße des Stadtteils ist steil, wir brauchen Bänke, damit ältere Menschen sich auch mal ausruhen können. Menschen aus 80 nationen leben hier, wie können wir Miteinander und nicht nebeneinander her leben? Bei all diesen Fragen, und bei vielen Anderen, die ich jetzt nicht genannt habe, ist der Ortsbeirat die erste Anlaufstelle für die Bürger*innen, und er muss gehört werden, bevor die Stadtverwaltung oder die Stadtverordnetenversammlung irgendwelche Entscheidungen trifft.

Ich lebe seit 25 Jahren hier, aber am Leben im Stadtteil habe ich mich kaum beteiligt. Das hat zwar auch, aber längst nicht nur mit meiner Behinderung und den Schwierigkeiten der Kontaktaufnahme zu tun. Doch jetzt, als sich mir diese Chance bot, war ich gewillt, mir die Art von Politik anzuschauen, wo parteiinteressen eigentlich kaum eine Rolle spielen sollten, wo es um die unmittelbaren bedürfnisse der Menschen in der eigenen Nachbarschaft geht.

Ich beteiligte mich erstmals an einem Wahlkampf. Nun ja: Ich entwarf ein paar Texte. Andere Aktionen waren nicht so gelungen. In zumindest unserem auf Hochtouren laufenden aktionsteam war die Expertise eines blinden Mitstreiters zumindest teilweise nicht besonders gefragt. Trotzdem beteiligte ich mich, so gut es ging. Und ich las mich schon mal in die Rechtsgrundlagen für den Ortsbeirat ein: Ich las die Hauptsatzung der Stadt Marburg, die Geschäftsordnung für die Stadtverordnetenversammlung, die sinngemäß auch für Ortsbeiräte gilt, und die hessische Gemeindeordnung, in der die Rechte und Pflichten der Ortsbeiräte aufgelistet sind.

Und dann kam der Wahltag. In Hessen darf man Kumulieren und Panaschieren, also einzelnen Bewerber*innen mehrere Stimmen geben, andere Bewerber*innen streichen, seine Stimmen über mehrere Listen verteilen. Man hat dabei so viele Stimmen, wie das Gremium, das man wählt, Sitze hat. Die auszählung ist natürlich schwierig, und sie dauerte mehr als drei Tage. Dann aber konnten wir alle Erfahren, dass Demokratie zumindest in diesem kleinen Rahmen tatsächlich funktioniert.

Der Arzt, der für mich auf seinen zweiten Listenplatz verzichtet hatte, landete, weil er so beliebt ist, auf Platz 2. Eine Genossin, die sich seit Jahren gegen den Mietenwahnsinn engagiert und von vielen betroffenen Bewohner*innen geschätzt wird, überholte mich ebenfalls, und auch die Frau, die von vorneherein auf Platz 3 stand. Mit zwei Stimmen zu wenig landete ich dann also auf Platz 5, und die SPD erhielt erwartungsgemäß 4 Sitze.

Das ist Demokratie. Die Menschen haben die Leute gewählt, die sie kennen und schätzen. Wenn ich will, dass sie mich in fünf Jahren wählen, dann sollte ich anfangen, mich anzustrengen, etwas für sie tun, mich ihnen vorstellen, an ihrem leben teilnehmen, am Leben in diesem Stadtteil.

Ich weiß noch nicht, ob ich das tun werde, ob ich jetzt den langsamen Weg in die Politik am Ort gehen, oder mich wieder in den Elfenbeinturm des Bloggers und Kommentators größerer Ereignisse zurückziehen werde. Ich bin kein besonders belastbarer Mensch, und ich muss mir überlegen, ob mir dies zu viel werden würde. Wäre ich gewählt worden, hätte ich das Pferd von der anderen Seite her aufzäumen können, Kontaktaufnahmen wären leichter gewesen, zumindest für mich.

Es war ein interessanter Ausflug in die echte Politik, die nämlich, die nah bei den Menschen ist. Ich habe einen großen Respekt vor den Leuten, die seit 20, 30, 40 Jahren für diesen Stadtteil arbeiten, immer mit wenig Möglichkeiten zur Hilfe, immer mit großem Engagement, verwurzelt in ihrer Nachbarschaft und beliebt bei den Menschen am Ort. Es sind Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Berufe und Bildungswege. Alle jedoch sind sie weit älter als ich. Nachwuchs in der Stadtteilpolitik ist Mangelware. Und wenn sich niemand mehr um die Belange der Bürger*innen am Ort kümmert, dann verrotten und verwaisen die Stadtteile, die nach wie vor die Urzellen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens sind.

Ich habe viel gelernt, und ich werde weiterhin viel lernen, denn ich bleibe hier in der SPD am Ort. Und wer weiß: Vielleicht werde ich ja in fünf Jahren in den Ortsbeirat gewählt.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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