Die Ära der Volksparteien ist vorbei

Den folgenden Beitrag habe ich für den Ohrfunk geschrieben, und zwar bevor alle Zeichen auf Ampel standen.

Die Ära der Volksparteien ist absehbar beendet. Das sagt nicht irgendwer, sondern der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger. Was er nicht sagt ist, dass in Zukunft das Land noch viel schwerer regierbar sein wird als bislang. Dabei hängt beides unauflösbar miteinander zusammen.

Einer der Kritikpunkte an der parlamentarischen Demokratie war immer ihre Schwerfälligkeit. Große Reformen, so notwendig sie auch waren, kamen nicht in Gang, weil es an der gesellschaftlichen Unterstützung fehlte, und weil alles erst bis ins letzte in den Volksparteien ausgehandelt werden musste, bevor man an die Umsetzung gehen konnte. Da mussten in jeder Partei Widerstände überwunden werden, weil diese Volksparteien eben ein ganzes Bündel widerstreitender Interessen in sich vereinigten. Da konnte eine von der Wissenschaft als dringlich bezeichnete und angemahnte Gesundheitsreform auch mal zwanzig Jahre auf sich warten lassen, bis sich in allen gesellschaftlichen und politischen Kreisen die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass es jetzt wirklich an der Zeit war, und dann kam diese Reform natürlich viel zu spät. Ein unüberwindliches Dilemma der Konsensdemokratie modernen Typs, in der ein Basta-Kanzler nur eine Schaufensterpuppe ist.

Das Ende der klassischen Volksparteien allerdings macht alles noch viel schlimmer, wie man gerade bei den Sondierungen für eine künftige Bundesregierung exemplarisch beobachten kann. Während ich diesen Kommentar schreibe, teilt die stellvertretende parlamentarische Geschäftsführerin der FDP-Fraktion im Bundestag, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, dem SWR mit, die Union sei bei den Sondierungen noch im Spiel, auch wenn sie derzeit stark mit sich selbst beschäftigt sei. Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts, denn die CDU hat nach diesem Wahlkampf ihren Status als Volkspartei praktisch verloren, was natürlich einen Schock auslöste. Warum aber ist eine Partei, die über 9 % bei der Bundestagswahl einbüßte, und die kaum noch jemand an der Regierung sehen will, noch im Spiel? Weil sie nur durch den Machterhalt die Reihen intern wieder hinter dem möglichen Kanzler schließen kann, weil sie nur so zu der Disziplin gezwungen wird, die nötig ist, um die Fliegkräfte aufzuhalten, die sich in der alten, verkrusteten Struktur der Merkel-CDU bemerkbar machen. Akzeptiert die CDU erst einmal diese Wahlniederlage, dann wird sie sich ihre Themen-Nische suchen müssen, in der sie eine abgegrenzte Wählerklientel ansprechen kann, wie es die Grünen, die FDP und die Linken bereits getan haben. Die SPD hatte es nicht geschafft und taumelte der Bedeutungslosigkeit entgegen, bis Olaf Scholz durch sein Auftreten ihr den Hauch eines Volksparteiimages zurückgab, und zwar höchstens für eine Legislaturperiode.

Der Grund für das Ende der Volksparteien liegt in der zunehmenden Zersplitterung der Gesellschaft. Jede Gruppe ist streng auf ihren eigenen Vorteil bedacht und hat das Große Ganze nicht mehr im Blick. Nur wer die eigenen Interessen vehement vertritt, kann hoffen, ein so scharfes Profil zu gewinnen, dass man in der lauten, auf Schlagworte zugespitzten Mediengesellschaft noch gehört wird. Die sogenannte Cancel Culture, die Identitätspolitik und der rechte Gesinnungsfuror sind Ausdruck dieser immer geringer werdenden Kompromissbereitschaft, die sich aus der Angst speist, bei einem Zugeständnis an einen politischen Gegner, der vorübergehend zum Partner werden soll, unter die Räder zu kommen.

Alle politischen Gruppierungen suchen mehr und mehr nach ihren sogenannten Kernthemen, nach Alleinstellungsmerkmalen, die sie von den Anderen abgrenzen. Und um ihren Platz zu behaupten, ziehen sie rote Linien, posaunen sie in die Welt hinaus, was mit ihnen auf keinen Fall gehen wird. Mit der FDP wird es keinesfalls Steuererhöhungen geben, die aber für einen ökologischen Umbau der Gesellschaft, der auch noch sozial abgefedert werden soll, absolut notwendig sind. Mit solchen No-Gos hält gerade die FDP ihre Wähler*innen bei der Stange. Sie kann es sich gar nicht leisten, von diesen postulierten roten Linien abzuweichen, denn sonst verliert sie ihre Kernwählerschaft, die eben auch das Große Ganze nicht mehr im Blick hat. Das erste Opfer dieser aggressiven Politik sind die Grünen, die ein Tempolimit auf Autobahnen zu einem der unverzichtbaren Punkte ihres Programms erkoren hatten. Aber da die FDP keinen Millimeter von ihrer Ablehnung abweichen wollte, mussten die Grünen nachgeben. Das kostet sie Glaubwürdigkeit, die ohnehin ein rares Gut ist. Echte Volksparteien mit genügend gesellschaftlichem Rückhalt hätten lange debattiert, aber irgendwann wäre eine Entscheidung gefallen, und die Unterlegenen hätten sich parteiintern damit abfinden müssen. Bei nächster Gelegenheit hätte man ihnen ein Zugeständnis gemacht, um die Balance zu halten.

Der Vorteil von Olaf Scholz ist, dass er zwar Ziele, aber nur wenige rote Linien aufgestellt hat. Trotzdem wird es für ihn und die SPD kaum möglich sein, eine Koalition mit FDP und Grünen zu schmieden. Thematisch eingeschränkte, scharf profilierte Parteien haben immer das Problem, nicht nachgeben zu dürfen, wenn sie ihre Wähler*innen nicht verlieren wollen. Für die FDP, die inhaltlich weit von der SPD entfernt ist, bringt der Kuschelkurs mit der Union zum einen die Drohung, notfalls ohne die SPD zu regieren, und zum Anderen die Hoffnung, mit einem schwachen Partner CDU mehr von den eigenen Zielen durchsetzen zu können. Und weil die Union die Macht braucht, um zu überleben, könnte es durchaus sein, dass wir bald eine Jamaika-Regierung haben werden. Denn trotz der Ablehnung durch die grüne Basis lockt die Union, der es diesmal nicht um Inhalte geht, ihre möglichen Partner damit, die künftige Regierung maßgeblich gestalten zu können. Wenn Grüne und FDP sich also in vielen Punkten einigen können, dann dürfte es der grünen Parteispitze nicht schwer fallen, der Basis eine Jamaika-Koalition zu verkaufen. Denn eines ist allen klar: Die Grünen werden mit ihrer Agenda maßgeblich die Inhalte der künftigen Regierungspolitik bestimmen. Niemand kann sich etwas anderes leisten. Inhaltlich ist es nicht so wichtig, mit wem sie ihre notwendigen Maßnahmen durchsetzen. Wenn sie es schaffen, auf das Tempolimit zu verzichten und die Frage der Steuererhöhungen geschickt zu umgehen, ist die Union nach wie vor im Spiel.

Nur das gelassene Schweigen von Olaf Scholz könnte diese Taktik durchkreuzen. Er beteiligt sich nicht an der Aufgeregtheit der Vorsondierungen, er protzt nicht öffentlich, fordert nichts, mahnt höchstens zur Eile und weiß die SPD erstmals seit Jahrzehnten als geschlossen agierende Partei hinter sich. Das darf man nicht unterschätzen. Wenn er zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Dinge sagt, könnte es doch noch zu einer Ampelkoalition kommen. Was dann aus der Union wird, ist nur schwer vorherzusagen.

Nachtrag: Nun beginnen also die Sondierungsgespräche für eine Ampel. Über das Ergebnis sagt dies nichts aus, wie wir 2017 bei Jamaika gesehen haben. Mit dem Offenhalten von Jamaika bleibt die SPD erpressbar.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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