Plädoyer für politische Kompromissbereitschaft

In dieser Woche kann ich nicht lange quatschen. Warum nicht? Ich bin am letzten Samstag zum Ortsvereinsvorsitzenden der SPD in meinem Stadtteil gewählt worden. Das ist eine völlig neue Herausforderung für mich. Dadurch habe ich auch neue und spannende Dinge zu tun. Beispielsweise werde ich an einem echten Parteitag teilnehmen, wenn es auch nur ein Stadtverbandsparteitag ist.

Das alles wäre nicht so berichtenswert, wenn mir dabei nicht erneut die Notwendigkeit des politischen Kompromisses vor Augen geführt worden wäre. Bei der Beurteilung von Politiker*innen hat sich eine Sichtweise durchgesetzt, die ich problematisch finde. Wenn sie im Wahlkampf etwas versprechen und dies dann am Ende nicht halten, wird ihnen entweder Feigheit, Schwäche oder Lüge vorgeworfen. Das alles gibt es natürlich, Politiker*innen sind oft durchaus leicht selbstverliebt und eitel. Das müssen sie auch sein, zumindest dann, wenn sie über die Weihen im Ortsverein oder im Stadtparlament hinaus wollen. Aber es gibt auch wirklich viele, die ehrlich und engagiert ihre Arbeit machen. Wenn sie in einem Gemeinwesen, das auf Mehrheiten basiert, überhaupt etwas durchsetzen und auf den Weg bringen wollen, dann brauchen sie die Fähigkeit zum Kompromiss. Nur Fundamentaloppositionelle können es sich leisten, immer das moralische Gewissen zu sein und alle in Bausch und Bogen zu verdammen, die keine absolut weiße Weste haben. Wenn erfahrene Politiker*innen einen Kompromiss erzielen und einen Teil ihrer Positionen räumen, um für andere Projekte eine Mehrheit zu finden, tut das immer weh. Doch sie stehen danach voll und ganz auch öffentlich zu diesem Kompromiss, ohne dauernd zu betonen, dass sie selbst ja anderer Meinung waren. Das ist beste demokratische Tradition. Doch das wird heute nicht mehr verstanden, wo viele Menschen nach der für sie maßgeschneiderten Partei suchen und alle Anderen ablehnen.

Viele sagen, dass dies eine typisch sozialdemokratische Sichtweise ist, dass die SPD gummiartig all ihre Positionen der Macht zuliebe räumt. Andererseits hat sie mit dieser Macht durch einen quälend langsamen Prozess den Lebensstandard des kleinen Mannes gehoben. Mit radikaleren Forderungen wäre sie zwar in bestimmten Kreisen beliebter gewesen, hätte aber keine Mehrheiten gefunden, sich in der Opferrolle eingerichtet und nichts von dem umgesetzt, von dem wir noch heute selbstverständlich profitieren, auch wenn es die SPD war, die Teile davon wieder eingerissen hat, was sie selbst einst aufbaute.

Je älter ich werde, desto kompromissbereiter werde ich auch. Ich bin früher gegen viel mehr Mauern gerannt und habe mich darüber geärgert. Heute versuche ich die kleinen Schritte, denn nur das ist in der Politik möglich. Greta Thunberg zum Beispiel hat recht, wenn sie böse ist, weil doch jeder wissen muss, dass radikalere Maßnahmen zum Schutz des Klimas notwendig sind. Trotzdem ist es wahr, dass es zu viele Leute gibt, die man nur durch geduldige Kompromisse überzeugen kann, auf die man aber angewiesen ist. Was soll man machen? Mit diesen Leuten reden und wenigstens langsam vorwärts kommen, oder radikaler sein und keine Mehrheiten bekommen?

Solche Kompromisse tun übrigens manchmal verdammt weh, wie ich spätestens seit ein paar Tagen aus eigener Erfahrung weiß. Ich habe schlucken müssen bei dieser Wahlversammlung, aber ich werde versuchen, das Beste daraus zu machen. Mir ist nicht gelungen, was ich mir vorher vorgenommen habe, aber einen Teilerfolg habe ich erzielt. So ist es in der Politik, und das muss man wissen. Wir tun uns keinen Gefallen damit, die Fähigkeit zum Kompromiss nicht mehr zu lehren, sie auch in unseren Medien nicht mehr als Erfolg zu präsentieren, sondern allzu oft als Verrat. Damit schrauben wir die Erwartungen hoch und nähren das Bild von den Politiker*innen als zwielichtige, irgendwie unangenehme Gestalten. Dabei brauchen wir Vertrauen zu ihnen, wenn sie uns alle vertreten sollen.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
Dieser Beitrag wurde unter Leben, Politik abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Eine Antwort zu Plädoyer für politische Kompromissbereitschaft

  1. Lothar Petersen sagt:

    Ein sehr guter Beitrag! Kompromisfähigkeit ist die Grundvoraussetzung. Nur so funktioniert Demokratie. Es gibt nur ein Problem: Je mehr Politiker im Bundestag sitzen, um so schwieriger wird es einen Kompromis zu finden.Dazu kommt die Korruption – oh Verzeihung das heißt ja jetzt Lobbyismus. Das Erste was die neu im Bundestag gewählten Politikerinnen und Politiker erhalten ist Post von irgendeinen Lobbyisten (schnell sein ist Alles).Ich bin nun keine 70 Jahre mehr und ich bin dieses politischt Theater müde! Es wundert mich überhaupt nicht, dass in Rom NICHTS konkretes zum Klimaschutz herausgekommem ist. Die Politiker behaupten: sie sind nur Ihrem Gewissen verpflichtet. Problem ist nur – Sie haben keins! Sie können ja auch gar nichts entscheiden, da Sie wie Marionetten an den Fäden der Lobbyisten hängen. LG Lothar

Schreibe einen Kommentar