Gibt es Krieg? Gedanken zum Russland-Ukraine-Konflikt

Ich weiß nicht, ob bei Veröffentlichung dieses Beitrages Krieg in der Ukraine herrschen wird oder nicht. Ich persönlich gehe davon aus, dass der Kriegsfall nicht in dieser Woche eintritt, doch es ist eine Situation geschaffen worden, die jederzeit in einen Waffengang münden kann. Allerdings versteht kaum jemand den Grund dafür, also möchte ich hier versuchen, den Hintergrund zu erklären.

Spannungen zwischen Russland unter Wladimir Putin und der Ukraine gab es schon länger. Mit der Drohung, der Ukraine den Gashahn abzudrehen, hat der russische Präsident immer wieder versucht, die Ukraine politisch näher an Russland zu binden. Seit 20 Jahren benutzt die russische Regierung die Abhängigkeit der Nachbarländer von russischem Erdgas als politische Waffe, um sich eine Einflusssphäre in Osteuropa zu sichern. In den außenpolitischen Konzepten der Sowjetunion und auch Wladimir Putins spielen Einflusssphären eine große Rolle. Es geht um formell selbstständige Staaten, die Russland wie ein Ring umgeben und damit die Sicherheit des Landes garantieren sollen. Im zweiten Weltkrieg teilten vor allem Winston Churchill und Joseph Stalin Europa in Einflusssphären auf. Churchill wollte damit ein weiteres Vordringen des Kommunismus verhindern und gestand gleichzeitig der Sowjetunion ein Recht auf Sicherheitsgarantien für die Zukunft zu. Den „eisernen Vorhang“, den Churchill später bitter beklagte, hat er somit selbst mit hervorgerufen. Die amerikanische Politik war zwar auf die Eindämmung und die Zurückdrängung des Kommunismus gerichtet, ging aber davon aus, dass es bei einmal „befreiten“ Ländern keiner formellen Einflusssphäre mehr bedurfte, da jedes demokratisierte Land selbst ein Interesse an der Erhaltung seiner Freiheit haben und sich dem westlichen Bündnis anschließen würde. Daher haben die NATO und die EU allen Staaten, die aus dem früheren Ostblock ausscherten, ein Beitrittsangebot gemacht.

Allerdings war man 1990 durchaus gewillt, Russland Sicherheitsgarantien zu geben. US-Außenminister James Baker fragte den sowjetischen Präsidenten Gorbatschow seinerzeit, ob der zustimmen würde, dass das vereinte Deutschland der NATO beitreten würde, wenn das Militärbündnis danach um keinen Millimeter weiter nach Osten verschoben werden würde? Gorbatschow fasste das als Garantie auf, Baker hatte es als Vorschlag gemeint.

Im Jahre 2008 allerdings machte die NATO Georgien und der Ukraine ein Beitrittsangebot. Jedes Land müsse die Freiheit haben, sich sein Bündnis auszusuchen, hieß es damals. Die russische Führung war enttäuscht und verbittert, zumal die NATO sich damals bereits weiter nach Osten ausgebreitet hatte, als von Baker und anderen Außenministern 1990 versprochen worden war. Trotzdem hätte es nicht zu einer Eskalation kommen müssen, denn die Ukraine stand meistens unter einer pro-russischen Führung und machte keine Anstalten, das Angebot anzunehmen. Erst als nach einem von der EU und den USA massiv unterstützten Umsturz 2013 die Ukraine sich dem Westen wieder annäherte, verschärfte sich der Konflikt.

Im Frühjahr 2014 besetzte und Annektierte Russland die Krim, vermutlich vor allem aus strategischen und innenpolitischen Gründen. Zum Einen wurde damit von der schlechten Wirtschaftslage des Landes abgelenkt, und Putins Beliebtheitswerte stiegen wieder an, zum Anderen lag die russische Schwarzmeer-Flotte auf der Krim, und Russland wollte den Zugang zum Schwarzen Meer behalten. Die Übernahme der Krim geschah durch getarnte russische Soldaten, was die Öffentlichkeit eine Weile verwirrte. Kurz darauf begann der Krieg in der Ost-Ukraine, wo sich zwei Regionen für selbstständig erklärten und sich Russland annäherten. Auch hier kamen und kommen vermutlich russische Truppen zum Einsatz.

In Deutschland fordert vor allem die Linke, man müsse Russland mehr verstehen und seinen Wunsch nach verlässlichen Sicherheitsgarantien ernst nehmen. Dies ist eine richtige und wichtige Forderung. Dabei darf man jedoch nicht den Fehler begehen, Wladimir Putin zum Saubermann und Opfer zu stilisieren. Der russische Präsident lässt seine Gegner*innen ermorden, einsperren und demütigen, und es ist schon eine Verdrängungsleistung der Linken, dass sie einen Mann unterstützt, der seinerseits mit Propagandasendungen, Hackerangriffen und anderen Aktionen die Rechten und ihre Agenda in Europa tatkräftig fördert. Trotzdem ist eine Verhandlungslösung unumgänglich, und niemand sollte Öl ins Feuer gießen.

Seit Monaten massiert nun Russland seine Truppen an der Grenze zur Ukraine. Vermutlich will Wladimir Putin keinen Krieg, sondern den Westen an den Verhandlungstisch zwingen. Allerdings hat er leichtfertigerweise den Kriegsautomatismus gestartet, und er kann die Eskalation nicht zurücknehmen, ohne innenpolitisch bei den russischen Patrioten das Gesicht zu verlieren. Er setzt darauf, dass der Westen nachgeben wird. Dies ist jedoch angesichts der Überraschung bei der Besetzung der Krim unwahrscheinlich. Die NATO verlegt Truppen nach Osteuropa und will damit zeigen, dass sie sich nicht einschüchtern lässt. Außerdem veröffentlichen die US-Geheimdienste in nie gekannter Offenheit Pläne und Termine für einen möglichen russischen Angriff. Damit wollen sie offenbar eine Überraschung wie bei der Besetzung der Krim verhindern und Russland seinerseits zu einer Verhandlungslösung bewegen.

Doch warum eskaliert der Konflikt gerade jetzt?
Der Hauptgrund dürfte die klar antirussische Haltung der ukrainischen Regierung sein. Während Russland die Ukraine gern als neutralen Puffer zwischen sich und der NATO sehen würde, wenn auch locker der russischen Einflusssphäre zugehörig, möchte die Ukraine sich in die EU und die NATO integrieren. Sie hält dies für einen Akt der Selbstbestimmung. Jedes Land habe ohne Rücksicht auf größere Länder und ihre Interessen das Recht, für seine eigene Sicherheit zu sorgen, heißt es aus Kiew. Wladimir Putin fordert hingegen eine Zusicherung, dass die Ukraine und Georgien niemals der NATO beitreten werden. Dieser Forderung verleiht der russische Präsident mit der militärischen Drohung ein hohes Gewicht und setzt damit einen gefährlichen Mechanismus in Gang.

Die Frage ist nun, was man tun kann, um den Konflikt zu entschärfen und die Kriegsgefahr zu bannen. Dabei ist es meiner Ansicht nach wichtig, zwischen den Interessen Russlands und den Forderungen Wladimir Putins zu unterscheiden. Putin führt ein autoritäres Regime und muss seine innenpolitischen Gegner*innen durch außenpolitische Erfolge besänftigen. Er muss zeigen, dass Russland wie zu Sowjetzeiten nach wie vor eine Großmacht ist, und dass er selbst diese Großmacht repräsentiert. Er muss den Wunsch nach Erfolg gegenüber und Anerkennung durch den Westen erfüllen, denn viele Russ*innen bewundern und fürchten den Westen gleichermaßen. Man fühlt sich dem Westen unterlegen und von ihm nicht ernst genommen, obwohl man doch eine Großmacht ist. Auflehnung gegen westliche Arroganz und Übermacht sind ebenso wichtig wie die Anerkennung von Russlands Größe und Interessen durch den Westen. Die einzige Möglichkeit, den Konflikt zu entschärfen, bestünde also in der Anerkennung russischer Interessen, in der Gleichbehandlung dieses großen und wichtigen Landes, ohne dabei den überzogenen Forderungen der aktuellen russischen Führung zu sehr nachzugeben. Die Ukraine hat ein Recht auf Selbstbestimmung. Möglicherweise wäre hier ein Modell denkbar, dass 1990 im Bezug auf Deutschland versucht und eine Weile lang auch praktiziert wurde: Die Ukraine könnte, wenn sie wollte, der NATO beitreten, ohne dass militärische Strukturen und weitreichende Waffensysteme dort etabliert werden. Gleichzeitig müsste Russland die territoriale Integrität des Landes garantieren. Damit könnte die Ukraine für Russland zum Pufferstaat werden, für den Westen zu einem Verbündeten, der unterstützt wird, und für beide zu einem Vermittler bei zukünftigen Konflikten.

Gerade, es ist Dienstag Mittag, las ich von einem Teilrückzug der russischen Kräfte. Es wäre ein bemerkenswerter Schritt, der für Wladimir Putin nicht ganz ungefährlich ist. Sollte diese russische Ankündigung den Tatsachen entsprechen, käme es nun darauf an, wie weit der Westen bereit ist, Vertrauen aufzubauen, und wie schnell Russland sichtbare Deeskalationsschritte unternimmt. Hoffen wir, dass die Kriegsmaschine nicht schon zu heiß gelaufen ist.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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