Kriegstagebuch 2: Umherirrende Gedanken

Es läuft der zweite Tag der Invasion Russlands in der Ukraine. Manche Journalisten sagen, die Ukraine sei bereits verloren, die Ukrainische Regierung behauptet, man halte sich den Umständen entsprechend gut. Es wird viele Flüchtlinge geben, und die Sanktionen scheinen wirkungslos.

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Sanktionen gegen Russland? Was nützen sie noch, wenn wir viel zu sehr verbandelt sind, als dass es nicht uns selbst ebenso sehr treffen würde? Die soziale Unruhe nimmt dann zu, wenn das Benzin teurer wird, oder einige Luxusgüter nicht zu haben sind. Worüber denken wir im Westen nach, während die Menschen in der Ukraine sterben?

Sie sterben, weil die Weltordnung und das Völkerrecht nur schöne Worte waren. Solange auch die demokratischen Staaten ein starker Pol waren, und zwar politisch, wirtschaftlich und militärisch, solange gab es eine Art von Respekt voreinander. Damit ist jetzt schluss! Wladimir Putin hat uns das binnen eines Tages klar gemacht. Wir Traumtänzer haben gedacht, wir hätten etwas erreicht in den letzten Jahrzehnten. Zivilisation ist eine dünne Tünche! Jetzt müssen wir begreifen, dass die größten und wirtschaftlich wie militärisch stärksten Länder der Welt autokratische Länder sind, oder sich zumindest auf dem Weg dorthin befinden. China, Russland, Indien. China bestimmt die neue Weltordnung. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Die Staaten des Westens haben nicht nur ihre Werte verloren, sondern auch ihre Entschlossenheit und ihre innere Stabilität. Von Rechts wird alles in Frage gestellt, was uns heilig sein sollte.

Der Westen ist schwach. Wir in Deutschland haben uns seit Jahrzehnten der Illusion hingegeben, wir könnten uns aus direkten Kriegsbeteiligungen raushalten und mit Waffendeals unsere Gewinne machen. Nach außen waren wir die friedlichste Nation der Welt. Jetzt merken wir, dass auch wir bedroht werden können, und dass wir dafür keinesfalls gerüstet sind. Müssen wir nicht vielleicht doch zu den Zeiten zurückkehren, in denen wir militärisch gut ausgerüstet waren, aber auf gar keinen Fall uns an irgendwelchen Einsätzen beteiligten?

Ich habe Kriegsangst, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie er sich hier anfühlen würde. Vielleicht gar nicht, denn Putin droht mit Atomschlägen, das hat mit dem Krieg, wie unsere Eltern und Großeltern ihn beschrieben haben, absolut nichts mehr zu tun. Wenn wir in den nächsten Monaten in einen Krieg hineingezogen werden, ist es vermutlich ein nuklearer Schlagabtausch.

Die Menschen in der Ukraine sterben, und viele im Westen haben Angst vor höheren Benzinpreisen. Wie widerlich doch diese Haltung ist. Über die Sanktionen wird Russland lachen, China wird sich freuen. Es gibt keine weltweit geteilten Werte mehr, nicht mal mehr ein Mindestmaß, nicht einmal mehr einen kleinsten gemeinsamen Nenner.

Immer noch schreibe ich wirre Gedanken auf und habe kein Konzept, könnte für den Ohrfunk keinen Kommentar schreiben, der etwas sinnvolles und neues enthält. Wie oft hat man in den letzten Jahren doch behauptet, mit Krieg könne man nichts mehr gewinnen, das hätten die meisten global Player eingesehen. Jetzt wissen wir es besser.

Es ist Abend geworden, und ich verfolge die Live-Ticker großer Zeitungen. Es wird nicht viel über Kampfhandlungen berichtet, vielmehr wird über Reaktionen gesprochen, über Verhandlungen, Telefongespräche, über Anti-Kriegs-Demonstrationen in Russland und Deutschland, über Sanktionen gegen Personen, über die Aufforderung an einen in Deutschland arbeitenden russischen Star-Dirigenten, sich von Putin zu distanzieren. – Was soll das? Solange er den Krieg nicht verherrlicht oder öffentlich rechtfertigt, sollte ihn niemand dazu auffordern dürfen.

Richten wir uns im Krieg ein? Ich hoffe nicht. – Müde bin ich, es ist alles bitter und traurig. – Es wird Zeit, dass ich schlafe. Morgen ist auch wieder ein Tag.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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Eine Antwort zu Kriegstagebuch 2: Umherirrende Gedanken

  1. Ich werde heute nachmittag zum Erwin-Piscator-Haus gehen, wo um 17 Uhr eine Mahnwache stattfindet. Sie kann keinen Krieg stoppen, aber den Menschen in der Ukraine und auch den mutigen Menschen in Russland, die für Frieden eintreten, Mut machen. Waffenlieferungen an die Ukraine würden wenig helfen, da diese Waffen in kürzester Zeit in russischer Hand wären.
    Menschenrechte sind unteilbar. Man muss sie auch dann verteidigen, wenn man einer bewaffneten Übermacht gegenübersteht. Letztlich handelt Vladimir Putin aus Furcht vor Menschenrechtsanwälten und der Demokratie, die an seinem Machtanspruch nagt.
    Darum ist die Demokratie stärker als er und wird letztlich gewinnen.
    fjh

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