Nach dem Attentat von München: Es ist immer noch Wahlkampf

Gestern habe ich nach ein paar Tagen Pause mal wieder auf Mastodon etwas geschrieben. Es war kein ausgefeilter Kommentar, sondern kam von Herzen.

Guten Morgen ihr Tröten allerlei Geschlechts. Ich wünsche euch eine produktive, stabile, aktive Woche. Ihr habt sicher gemerkt, dass ich mich seit dem Anschlag von München hier nicht mehr gemeldet habe, obwohl ich euch vorher jeden Tag mehr oder weniger nutzlose Weisheiten in die Timeline gespült habe. Der Grund ist ganz einfach: München war für mich ein Moment der Hoffnungslosigkeit. Es war ein Schock, ein Ausbremsen in vollem lauf.
Als ich von München erfuhr, dachte ich zynischerweise zuerst: Dieser Anschlag kam wie bestellt! Gerade hatten wir ein wenig Hoffnung, das Schlimmste noch zu verhindern, da brettert ein Flüchtling, ein Afghane, in eine Menschenmenge, und inzwischen sind ja auch zwei Personen gestorben. Und ich? Ich habe zunächst nicht an die armen Opfer gedacht, sondern an die verpasste Chance zur Demokratierettung. Auch ich bin letzthin tief gesunken, doch ich merke es noch.
Jeder einzelne Mensch verhält sich individuell, ist nicht zu berechnen, ist ein unglaublich reichhaltiges, einzigartiges Individuum. Doch die Masse Mensch, die begeisterten, taumelnden, wütenden, hassenden, aufstachelnden Massen sind leicht zu berechnen, leicht zu führen und leicht zu manipulieren. Wer auf der Klaviatur der Ängste spielt, die sich gegenseitig aufschaukeln, hat schon gewonnen. Wir sehen es nach jedem Anschlag.
Und die Medien sind die ersten, die nach den einfachen Regeln dieser Massenmanipulation spielen: Die Messerangriffe, auch die tödlichen, mit biodeutschen Tätern kommen in ihrer Berichterstattung praktisch nicht vor, und sie geschehen doch jeden Tag. Der Volksverpetzer mag so etwas aufdecken, aber Hand aufs Herz: Wer liest schon den Volksverpetzer, außer den üblichen Verdächtigen, die ohnehin dessen Meinung sind? Es ist zum Verzweifeln!
Auch deshalb habe ich mich dünne gemacht hier in den letzten Tagen: Hier sind wir doch alle einer Meinung! Kaum jemand wählt die Union! Viele wählen auch keine SPD mehr, Grüne und Linke vielleicht, die Einen mehr, die Anderen weniger. Also ist dieses Fediverse eine Echokammer gegenseitiger Selbstversicherung, bringt aber nicht viele von draußen dazu, ebenfalls ihren Arsch für die Rettung dieser Demokratie zu erheben. Vielleicht verdient sie es auch nicht.
Wie schrieben schon „Maybebop“ über meine glückliche, sorglose, oberflächliche Generation: Zu spät gebor’n um irgendwas auszustehen gehabt zu haben. Alles im Fluss und nichts im Weg. Das Aufbegehr’n tief in der Unbefangenheit vergraben, Meinungsfrei als Privileg. Doch es zeigt sich, dass wir Geister riefen, derweil wir so behütet schliefen, die – eingeflüstert von Suffleuren – Vergangenheit heraufbeschwören! Wir müssen #LAUTSEIN!!!
Nach München brauchte ich ein paar Tage, um meinen Trotz wiederzufinden, den Trotz, mit dem ich noch einmal sage: Jetzt erst recht!!! Weiterkämpfen!!! Damit später niemand sagen kann, er Hätt‘ von nichts gewusst, wie Maybebop singen. Und: Damit wir uns nicht alleine fühl’n, denn wir sind mehr!!! Bei letzterem werde ich mir immer unsicherer, aber egal! Solange wir die Wahl haben, ist die Qual nur wahrscheinlich, nicht sicher!!!
Was wird sie also tun, die so einfach manipulierbare Masse Mensch? Bleiben Sie dran, wenn es zu einem spannenden Showdown kommt in ARD, ZDF und vor allem bei RTL und in der Springerpresse: Verweichlichte Demokratie gegen Neofaschismus! Gleich! Auf Ihrem Fernsehschirm! Und damit Ihnen die Zeit nicht lang wird: Holen Sie sich eine Tüte Chips!!! Und bitte: Schalten Sie das Gehirn aus, sonst garantieren wir für nichts!!!
Auf also zur letzten Woche. – Ach ja: Ich höre oft, das Buch „Die Entscheidung“ von Jens Biski sei so beeindruckend. Weiß ich nicht, hab ich noch nicht gelesen. Es beschreibt den Weg in den Faschismus. Ich empfehle mal einen handfesten Roman: „Ritchie Girl“ von Andreas Pflüger. Durchaus historisch, aber persönlich und hautnah, es geht auch um Schuld und Verstrickung, neben Liebe, Blindheit, Doppelbödig- und -Züngigkeit.
Wenn dereinst der Faschismus wiederkehrt … – Oder nächste Woche? – Ich habe gestern abend eine Musiksendung live gemacht auf www.ohrfunk.de – Dort spreche ich auch über meine Gedanken. Und mir wurde klar: Nächste Woche, bei der nächsten Sendung könnten wir in einem Land leben, in dem nach der schleichenden Machtübernahme die kritischen Stimmen in Presse und Rundfunk mundtot gemacht werden. Ganz einfach durch Geldentzug, ohne Verhaftung. Wie schrecklich!

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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