Für den Ohrfunk habe ich immer noch politischen Urlaub, erst am 13. September geht es wieder los, drum habe ich auch in den letzten Wochen nichts über Afghanistan oder die Bundestagswahl geschrieben. Und wenn ich heute doch blogge, so ist es ein sehr persönliches Posting. Heute Morgen um 07:24 Uhr erreichte mich ein launiger Tweet einer Radiomacherin: „Jaaa. Ich weiß es jetzt“, schrieb sie und teilte mir dann in genervtem Ton die Unglaublichkeit mit, die sie am Morgen in *jedem Sender* gehört hatte, von der zumindest ich jedoch noch gar nichts wusste. Doch die Zeitmaschine sprang sofort an und katapultierte mich in eine ferne, ferne Vergangenheit, eine Zeit ohne Krieg, Hass und Rechtsradikalismus, eine Zeit voller Geborgenheit und im unerschütterlichen Glauben, dass das Leben lang und schön werden würde.
Ich stand als kleiner Junge in unserem Wohnzimmer. Meine Schwester, der liebste Mensch der Welt, stand vor mir. Ich war fünf, sie war fast 17 und musste zur Schule. „Setz dich auf die Couch, ich hol die Oma“, sagte sie, aber ich wollte nicht. Ich wollte nicht, dass sie weg ging und mich den Tag über mit meiner irgendwie strengen Oma alleine ließ. Ihre Anweisung wurde immer schärfer, bis sie auf die rettende Idee kam: „Ich mach dir auch Musik an.“ Also setzte ich mich brav hin und lauschte den Klängen aus unserer Musiktruhe, während meine Schwester im Nachbarhaus meine Oma alarmierte und ihr sagte, dass ich wach war…
Ein Nachmittag im Sommer 1975, ich war inzwischen 6 Jahre alt: Wir waren draußen, hinter unserem Haus. Auf dem Fensterbrett des Zimmers, das meine Schwester und ich gemeinsam bewohnten, standen die meiner Ansicht nach guten Boxen unserer ersten Stereoanlage. Wir saßen auf der Wiese hinter dem Haus, meine Schwester und ein netter Lehrling meines Vaters auf Liegestühlen, ich auf einem kleinen Kindercampingstühlchen mit Stoffbezug. Mein schwarzer Pudel lag vor mir im Gras, die Sonne schien mir ins Gesicht. Schnelle, laute, schöne, eingängige Musik dröhnte ohne Klirren aus den Boxen. Ich kannte das Lied, doch es sollten noch Jahre vergehen, bis ich begriff, dass das Lied den Namen einer belgischen Stadt im Titel trug, und noch mehr Jahre sollte es dauern, bis ich verstand, worum es in dem Text ging, der mit leichtem Echo von einer oder zwei Frauenstimmen gesungen wurde…
Ein Jahr später sang meine Mutter sogar das Lied über den Typen mit dem fremdländischen Namen mit, obwohl sie schon so alt war, und obwohl ich dachte, sie würde die Musik meiner Schwester sicher nicht mögen…
Irgendwann 1978, meine Schwester war Verkäuferin, saß ich einen ganzen Tag auf glühenden Kohlen. „Morgen“, so hatte sie mir am Abend vorher versprochen, „Morgen bringe ich eine neue Single mit.“ Egal, was „Chiquitita“ bedeutete, es war nur wichtig, wie es klang. Und es klang grandios! …
Wie war das noch mal? Warum war das Ende von 1979 nicht das Ende des Jahrzehnts? Ich dachte darüber nach, aber ich verstand es irgendwie nicht. Ab Morgen war 1980, das war doch sicher ein neues Jahrzehnt. Aber meine Lehrer und sogar meine Eltern behaupteten, das neue Jahrzehnt würde erst 1981 anfangen. Ich schaltete das Radio ein, als der Kopf heißgelaufen war. Es lief RTL, und … auf einmal hörte ich eine Stimme. Sie sang nicht, sie sprach: „Hi, this is Anni-Frid from ABBA, and we’re wishing all of you a happy new year!“ Das Lied kam sofort danach. Ich hörte es allein, meine Schwester war inzwischen ausgezogen, hatte geheiratet und erwartete ihr zweites Kind. Doch in diesem Moment war sie da. … Es ist melancholisch, und trotzdem spielen wir es jedes Jahr, wenn wir uns ein schönes neues Jahr wünschen.
Viel später, als „Der Tag bevor du kamst“ längst vergangen war, und „als alles gesagt und getan war“, begriff ich, dass „Die Besucher“ Mitglieder eines Geheimdienstes eines diktatorischen Staates waren. Zu diesem Zeitpunkt waren die Stimmen meiner Kindheit längst gewogen und zu seicht befunden worden von denen, die keine Ahnung hatten. Sie waren verschwunden, bevor ich mehr als ihre Stimmen und ihre Namen kannte.
Die Eine, das „Mädchen mit den goldenen Haaren“, bescherte mir und meinen Freund*innen die erste Nummer 1 unserer gemeinsamen Hitparade im Jahr 1985, „I won’t let you go“, die Andere, immer unterschätzt und doch mit der ausdrucksvolleren Stimme gesegnet, tröstete mich nach dem Tod meiner Mutter zu Beginn des Jahrtausends mit einem Stück, das sie zusammen mit Jon Lord aufgenommen hatte: „The sun will shine again“.
Immer hieß es, man werde sie nie wieder zusammen hören, bis sie am 27. April 2018 plötzlich ein neues gemeinsames Projekt ankündigten. Und doch dauerte es fast dreieinhalb Jahre, bis zum Abend des 2. September 2021, bis sie ihre neue Single „I still have faith in you“ veröffentlichten. Die Pop-Legende ABBA ist nach 39 Jahren wieder da!
Ich zögerte nur wenige Sekunden, dann hörte ich mir das Lied an. – Sie können es immer noch, sie können die Herzen derer, die sie kennen und lieben, immer noch erreichen.
Ich bin ein Mensch, der das politische Liedschätzt, ein Mensch, der seichtem Party-Pop zumindest teilweise sehr kritisch gegenüber steht. Für mich drückt Musik immer auch den Zeitgeist aus, und das ist auch gut so. Doch all das, alle Rationalität und Engagiertheit verdrängen niemals die Band, die zu meiner musikalischen DNA gehört: ABBA. Wer sie zu seicht befindet, hat die Arrangements nie gehört, hat nie auf den Text von „The Visitors“ geachtet, hat nie gespürt, wie die Musik Millionen aller Generationen begeisterte und zusammenführte. ABBA spielen, zusammen mit wenigen Anderen, den Soundtrack meiner Kindheit, meiner Familie, meiner Geborgenheit, den Soundtrack des guten, des schönen Lebens.
Ich war nie ein Fan im eigentlichen Sinne. Ich würde nie Devotionalien sammeln, mir käme es nie in den Sinn, Bandmitglieder zu verfolgen, treffen zu wollen, ihnen zu schreiben, ihre Lebensgeschichte bis ins Kleinste zu durchforschen. Aber als ich heute morgen, oh, inzwischen ist es gestern morgen, also als ich gestern morgen ihr neues Lied hörte, verbesserte sich schlagartig meine Stimmung, und erstmals seit sehr langer Zeit habe ich ein Lied mehrfach hintereinander gehört. Ich kann nicht sagen, wie gut mir das tat in dieser Zeit, ich kann keine Worte finden. Sie hätten dieses Gefühl in mir nicht mit jedem Lied erreichen können, davon bin ich überzeugt. Doch sie haben immer noch die Töne getroffen. Sie sind älter geworden, aber das bin ich schließlich auch.
Viele Menschen meines Alters sind mit ihnen groß geworden, selbst die Revolutionäre haben heimlich mit ihrer „Dancing Queen“ getanzt. Viele mögen sich dafür heute schämen, ich tue das ganz gewiss nicht.
Thank you for the Music!
Das neue Lied ist echt hörenswert, habe es bei Radio Ruhr gehört, ich finde es auch total genial.
Selbst mein Vater mochte ABBA. „Sub Lunam saltamus“ hat ihn überzeugt.
fjh