Nach sehr kurzer Nacht setze ich meinen Schlusspunkt unter diese Wahlberichterstattung.
Während ich schlief trudelte das vorläufige amtliche Endergebnis ein: SPD: 25,7 % (206 Sitze)
CDU / CSU: 24,1 % (196 Sitze)
Grüne: 14,8 % (118 Sitze)
FDP: 11,5 % (92 Sitze)
AfD: 10,3 % (83 Sitze)
Die Linke: 4,9 % (39 Sitze)
SSW: … (1 Sitz).
Der SSW ist die Partei der dänischen und friesischen Minderheit in Schleswig-Holstein und ist von der 5-%-Klausel ausgenommen. Der neue Bundestag hat also 735 Mitglieder. Die Wahlbeteiligung lag mit 76,6 % um 0,4 Prozentpunkte höher als 2017.
So viel zu den Fakten und Ergebnissen.
Eigentlich hätte ich es vorher wissen sollen. Die SPD würde hinzugewinnen. Doch selbst wenn sie stärkste Partei würde, musste bei einem dreierbündnis mit Grünen und FDP auch eines mit der Union und ohne die SPD möglich sein. Weder Union noch SPD konnten hoffen, so stark zu werden, dass es keine Koalitionsmöglichkeit ohne ihre Beteiligung gab. Vielleicht war das auch ein Grund für meinen fehlenden Glauben an einen durchgreifenden Aufbruch und Neuanfang. Es stellt sich heraus, dass nicht die stärkste Partei nach alter demokratischer Tradition sich ihre Mitregenten aussucht, sondern dass die zwei kleinen Parteien sich in aller Ruhe ihren Partner auswählen können. Beide werden so oder so an die Macht kommen, die Umstände zwingen sie geradezu, miteinander zu reden und sich miteinander zu einigen, so schwer diese Phase der Verhandlungen auch sein wird. Grüne und FDP müssen ihre teils großen Differenzen im Bereich Klimaschutz überwinden, ansonsten dürften sie feststellen, dass ihre Standpunkte weitgehend kompatibel gemacht werden können, es handelt sich bei Beiden um bürgerliche Parteien. Die folgenden Ereignisse haben also eine gewisse Zwangsläufigkeit: Die FDP hat sich fast vollständig auf Jamaika festgelegt, die Grünen haben sich ihre Optionen offen gehalten. Sie können also, im Gegensatz zu Christian Lindner, flexibel sein und am Ende einer Koalition mit der Union zustimmen. SPD-Kandidat Olaf Scholz hat zwar gesagt, er wisse, wie er Lindner zu einer Zustimmung zu einer Ampelkoalition bewegen könne, doch das klang in meinen Ohren wie Wortgeklingel am Wahlabend.
Und dann die Union: Eine Partei mit dem absolut schlechtesten Ergebnis ihrer Geschichte ist Minuten nach der ersten vernünftigen Hochrechnung dummdreist genug, für sich den Regierungsauftrag zu reklamieren. Wäre sie stärker geworden, hätte sie von den politischen Gegnern Demut verlangt, Demut und Zurückhaltung. Sie selbst kennt weder Demut, noch Zurückhaltung, noch politischen Anstand.
Natürlich ist das Ansinnen von CDU-Kandidat Laschet nicht nur verfassungskonform, sondern nach den Spielregeln der Demokratie auch in Ordnung. Willy Brandt hat es 1969 auch so gemacht, als er als Spitzenkandidat der zweitgrößten Partei zum Kanzler gewählt wurde. Mich ärgert nicht Laschets Versuch an sich, sondern die Art, wie er ihn unternimmt. Bei ihm gibt es kein Innehalten, die Macht für die nächsten vier Jahre ist das Einzige, was ihn interessiert, und damit weiß er sich mit Christian Lindner einig.
In einer Zeit, in der über Themen, rasches Handeln für unsere Zukunft, die Bekämpfung der Klimakatastrophe und die soziale Gerechtigkeit schnellstmöglich gesprochen werden muss, stehen nur der Machterhalt und die Undenkbarkeit im Vordergrund, eine Niederlage einzugestehen und sie auch so zu nennen. Und da wundern sie sich über den schlechten Ruf der sogenannten Politikerkaste?
Betrübt hat mich das Abschneiden der Linken. Sie kommt wegen dreier Direktmandate wieder in den Bundestag, obwohl sie weniger als 5 % der Zweitstimmen auf sich vereinigen konnte. Bei aller inneren Zerstrittenheit, die es bei den anderen Parteien natürlich ebenso gibt, waren die Linken im Wahlkampf doch diejenigen, die am lautesten das Thema soziale Gerechtigkeit angesprochen haben. Was hat sie in den Augen der meist betroffenen Wähler*innen so unattraktiv gemacht? Sind sie zu intellektuell, zu uneindeutig? Träumen sie von Utopien, wie von einem Nato-Austritt Deutschlands, der für die meisten Bürger*innen undenkbar und weit von ihren Lebensproblemen entfernt ist? Ein Thema, über das man bei der Linken wird nachdenken müssen.
Die AfD hat verloren, gut so. Erschreckend ist aber, dass sie genau in den Bundesländern zur stärksten Kraft gewählt wurde, in denen sie offen vom Verfassungsschutz beobachtet wird, als wollten die Wähler*innen sagen: Was geht uns euer Verfassungsschutz, was geht uns euer Staat an? Dieses Problem geht viel tiefer, als viele von uns es sich eingestehen wollen. Ein großer Teil der Wähler*innen in Thüringen und Sachsen haben mit unserem Staat, mit unserer Demokratie nichts am Hut, und sie zeigen dies offen an der Wahlurne. Es ist ihre Art der Revolution, ihre Art, „Wir sind das Volk“ zu rufen. Das sind keine Protestwähler*innen mehr, das sind Leute, die ein anderes System wollen, und die – wie Anfang der dreißiger Jahre – dies mit, wie Hitler es nannte, legalistischen Mitteln anstreben, also an der Wahlurne. Die AfD schrumpft auf ihren Kern zusammen, auf die, die man keinesfalls mehr als unzufriedene Protestwähler*innen verharmlosen kann. Es vollzieht sich analog zur Mitgliederentwicklung der Partei: Alle, die nicht offen rechtsextrem sind, verlassen nach und nach die AfD. Das müssen wir wissen und bedenken, darauf müssen wir reagieren.
Vermutlich wird die Regierungsbildung lange dauern. Spötter prognostizieren bereits, dass Angela Merkel auch in diesem Jahr noch die Neujahrsansprache halten wird, und nicht wenige freuen sich darüber. Ob es so lange dauert, vermag ich nicht zu sagen, es kommt darauf an, wie lange sich die Grünen bitten lassen, einer Jamaika-Koalition zuzustimmen, oder ob Olaf Scholz tatsächlich ein Ass im Ärmel hat, ein verlockendes Angebot für Christian Lindner. Ich wüsste nicht, welches das sein sollte, aber man kommt an Lindner leider keinesfalls vorbei, obwohl die FDP nur viertstärkste Kraft ist. Es sei denn, man setze die große Koalition fort, doch das ist ebenso wenig vorstellbar wie nach der Wahl 2017. – Nun: Wir wissen ja, was daraus letztlich wurde. Es wird also vermutlich eine Weile dauern. Vielleicht zögert man die offizielle Regierungsbildung ja auch bis zum 18. Dezember hinaus, bis Angela Merkel einen Tag länger im Amt sein wird als Helmut Kohl seinerzeit. Politik wird auch zu einem nicht geringen Teil mit Symbolen gemacht.
Es ist halb neun am Morgen nach der Wahl. Ich sitze hier und denke nach über diesen sogenannten historischen Wahlabend. Hin und wieder habe ich es in den letzten Monaten gewagt, mir ein rot-grün-rotes Bündnis vorzustellen. Ich gebe zu, dass ich ein solches Ergebnis „historisch“ genannt hätte. Was für ein schöner Traum: Die Versöhnung der SPD mit den Abgehängten, der Arbeiterklasse, den ökonomisch Benachteiligten. Doch dazu sind wir in Deutschland nicht fähig, und auch sonst auf der Welt kaum, höchstens in Lateinarmerika, und auch das nur bis zum nächsten Putsch. – Aber schön wäre es gewesen. Stattdessen werden wir es vermutlich mit einem gescheiterten Hochschuldozenten mit christlich-fundamentalistischen Tendenzen zu tun bekommen, dem angehörigen einer machtgeilen Elite. Auf Twitter schrieb jemand, vor vier Jahren habe schon einmal jemand aus der Region Aachen Bundeskanzler werden wollen, gemeint ist Martin Schulz, seinerzeit Spitzenkandidat der SPD. „Hätten wir den doch mal lieber genommen“, seufzte der Schreiber, der nicht im Verdacht steht, der SPD nahe zu stehen. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. – Also los: An die Arbeit, der Ohrfunk wartet auf meinen Wahlkommentar.
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