Das Problem im Stadtbild

Den folgenden Beitrag habe ich schon vor 2 Wochen für den Ohrfunk geschrieben. Ich poste ihn hier der Vollständigkeit halber. Ich habe noch nicht so viel Wut abgebaut, dass ich einen guten, ausführlicheren Artikel schreiben könnte.

Wenn ich so durch die Straßen gehe, wird es mir klar: Wir haben ja im Stadtbild immer noch dieses Problem – abgestellte E-Roller, über die man als Blinder fällt, Nazis, die Menschen mit Migrationshintergrund und Andersdenkende bedrohen, Autos, die mit Tempo 80 durch 30er-Zonen rasen, Radwege, die schamlos als Parkplätze missbraucht werden. Fragen Sie Ihre Kinder, insbesondere Ihre Töchter! Gerade das Nazi-Problem muss endlich angegangen werden!

Nein, das ist natürlich nicht der O-Ton von Bundeskanzler Friedrich Merz. Aber seine Aussage klingt verdammt ähnlich. Er hat in Potsdam gesagt, man sei bei der Migrationswende weit gekommen, aber im Stadtbild habe man immer noch dieses Problem. Und deshalb, so Merz, sei der Innenminister dabei, Rückführungen in großem Umfang zu ermöglichen. Das Wort „deshalb“ ist hier entscheidend. Denn es verknüpft das angebliche „Problem im Stadtbild“ direkt mit den Menschen, die zurückgeführt werden sollen. Das ist keine ungeschickte Formulierung, das ist eine klare, kausale Aussage: Sichtbare Migration wird zum Problem erklärt, das man durch Abschiebung löst.

Und als wäre das nicht schlimm genug, verteidigte Merz sich später, indem er sagte, man müsse nur einmal die eigenen Töchter fragen, dann wisse man, was gemeint sei. Damit instrumentalisiert der Kanzler die Sicherheit von Frauen für eine politische Rechtfertigung, die nicht Sicherheit schafft, sondern Spaltung. Als ob den Frauen in diesem Land geholfen wäre, wenn wir Minderheiten ausgrenzen, statt endlich ernsthaft gegen Gewalt, Sexismus und patriarchale Strukturen vorzugehen. Das ist billiger Populismus mit Schutzbehauptung.

Als Bundeskanzler geht so etwas gar nicht. Und auch als Parteivorsitzender, selbst wenn er die Passage angeblich als „parteipolitisch“ angekündigt haben sollte – was niemand belegen kann –, bleibt es ein Sprengsatz in unserer liberalen Gesellschaft. Ein solcher Satz treibt Menschen bewusst in die Arme der AfD und bereitet den Boden für das, was Teile der Union längst anstreben: eine Normalisierung der Zusammenarbeit mit dieser Partei. In den letzten Tagen haben mehrere Unionsvertreter wieder genau das gefordert – erst auf kommunaler Ebene, bald wohl auch darüber hinaus.

Und was mich fast noch mehr beunruhigt: wie wenig Aufregung das auslöst. Als ende 2023 die AfD gemeinsam mit der WerteUnion in Potsdam über „Remigration“ sprach, sind rund eine Million Menschen auf die Straße gegangen. Heute nennen CDU und CSU dasselbe Konzept „Rückführungen“ – und kaum jemand reagiert. Die Sprache bringt es an den Tag, wie der Romanist, Jude und Verfolgte des Nazi-Regimes, Victor Klemperer, es ausdrückte. Die Diskursverschiebung ist in vollem Gange. Worte, die früher rechtsextrem waren, gelten heute als „harte, aber ehrliche Politik“. Das Undenkbare wird Schritt für Schritt wieder denkbar gemacht.

Wir erleben, wie bürgerliche Kräfte erneut die Demokratie verraten und sich dabei als Saubermänner aufspielen. Wie sie glauben, sie könnten das rechte Feuer zähmen, indem sie ein bisschen mitspielen. So wie 1933, als man meinte, man könne die Nationalsozialisten „einbinden“ und „kontrollieren“. Das Ergebnis ist bekannt. Und diesmal wird wieder jeder sagen, man habe ja nichts wissen können.

Aber wir wissen es. Wir hören die Worte, wir erkennen die Muster, und wir dürfen nicht schweigen, wenn aus Worten wieder politische Programme werden.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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