Den folgenden Kommentar zur US-Gesundheitsreform habe ich mal wieder für Ohrfunk geschrieben und veröffentlicht.Deutschland sagt: „Willkommen im Jahre 1883“, Großbritannien sagt: „Willkommen im Jahre 1911“, und Frankreich sagt: „Willkommen im Jahre 1930“. Damit kommentierte ein Blogger eindrucksvoll die amerikanische Gesundheitsreform, die das Repräsentantenhaus in der Nacht zum Montag nach langem Tauziehen endlich beschlossen hat. Es ist die größte Sozialreform in der amerikanischen Geschichte, und sie ist die Einlösung eines Wahlversprechens des Präsidenten. Erschreckend ist, dass die oppositionellen Republikaner eine wütende Menschenmenge aufbringen konnten, die beinahe das Parlamentsgebäude gestürmt hätten. Und derselbe Grund, der Barack Obama 2008 ins weiße Haus gebracht hat, könnte nun im Jahre 2010 dafür sorgen, dass die Demokraten im November die Wahlen haushoch verlieren. Politische Experten gehen fest davon aus, dass Obama ab November gegen einen feindlichen Kongress regieren muss und im Jahre 2012 nicht wiedergewählt werden dürfte. Grund ist die Tatsache, dass das Gesundheitspaket den Staat in den nächsten 10 Jahren rund 630 Milliarden Euro kosten wird, also im Durchschnitt über 60 Milliarden pro Jahr. Schon jetzt ist der amerikanische Staat extrem hoch verschuldet, und das nutzen die Republikaner aus. Die meisten Experten, aber wer hört schon auf Experten, sind allerdings der Meinung, dass die Gesundheitsreform den Haushalt nach Ablauf der 10 Jahre eher entlastet.
Für den Präsidenten war die Abstimmung also ein Sieg, auch wenn er ihn mit Zugeständnissen an die Abtreibungsgegner in den eigenen Reihen erkaufen musste. Seit rund 100 Jahren wurde um eine Gesundheitsreform in den USA immer wieder gerungen, doch erst Barack Obama ist sie gelungen. Das zeigt, welche Kraft Obama immer noch hat, obwohl man ihn international inzwischen als einen schwachen Präsidenten wahrnimmt.
Aber was ist nun der Inhalt der großen Gesundheitsreform? Hauptsächlich geht es darum, jeden amerikanischen Bürger gegen Krankheit zu versichern. Daher wird eine Versicherungspflicht eingeführt, und jeder Bürger, der sich nicht versichern lässt, muss 2,5 Prozent mehr Steuern zahlen. Außerdem dürfen Versicherer, seien es private oder die neue staatliche Krankenversicherung, niemanden wegen Vorerkrankungen ablehnen, oder höhere Prämien verlangen. Bei Personen, die rund um die Armutsgrenze leben, springt in jedem Falle die staatliche Krankenversicherung ein. Interessant ist ein Kostenausgleich. Demnach sollen Versicherte eine Rückerstattung ihrer Beiträge erhalten, wenn diese die Kosten für ihre eigene Gesundheitsverssorgung massiv übersteigen. Es handelt sich also um ein System persönlicher Vorsorge, nicht um eine solidarische Krankenversicherung. Mit Ausnahme kleiner Betriebe müssen Unternehmen ihre Mitarbeiter versichern und bei Festangestellten 72,5 Prozent der Beiträge übernehmen. Finanzieren will der Präsident dieses Jahrhundertwerk, das er selbst zwar nicht als radikal aber als umfassend bezeichnete, durch höhere Steuern für Großverdiener und strengeres Vorgehen gegen Kapitalflucht multinationaler Konzerne.
„Willkommen im Jahre 1883, verehrter Herr Präsident“. Das mögen wir in Deutschland den Amerikanern zurufen. Denn in diesem Jahr wurde im deutschen Reich durch den Reichskanzler Otto von Bismarck eine allgemeine Krankenversicherung eingeführt. In den USA galt bislang keine Pflichtversicherung. Rund 80 Prozent der US-Amerikaner waren allerdings mehr oder weniger Krankenversichert, jetzt werden es vermutlich mehr als 95 Prozent sein. Der gemeine Durchschnitts-US-Bürger wehrt sich allerdings gegen zu viel Staat in seinem Privatleben und betrachtet dies oft als Einmischung in seine persönliche Freiheit. Dummerweise oft auch jene US-Bürger, denen eine Krankenversicherung gut tun würde. So bleibt nur zu hoffen, dass der Präsident bald die Früchte ernten kann, die er mit so vielen Mühen und Kämpfen jetzt ausgesät hat.
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