Über mich

In der Blindenschule Düren

Am 2. September 1975 war es so weit. Im zarten Alter von sechs Jahren musste ich zur Schule. Leider wurden blinde Schülerinnen und Schüler damals noch nicht integrativ unterrichtet, gingen also nicht an eine Schule an ihrem Heimatort. Stattdessen musste ich ins Internat im 80 Kilometer entfernten
Düren. Dort gab und gibt es eine
Blindenschule. Schnell lernte ich hier, wie grausam Kinder, und wie unfähig Erzieher und Lehrer sein können. Das Personal der Schule bestand aus meist älteren, konservativen, unausgebildeten Erzieherinnen und Erziehern, die oftmals schon seit den fünfziger Jahren dort arbeiteten. Die Lehrer waren auch vom alten Schrot und Korn, es gab durchaus Ohrfeigen, Ohrendrehen und ähnliche Schikanen. Und manchmal wurde auch aus vier Meter entfernung ein Schlüssel nach einem aufmüpfigen Schüler geworfen. Ich war ein sensibles und ängstliches Kind, und ich hatte Fantasie und Heimweh. Eine perfekte Mischung, um für die Schüler, die irgendwo ihren Frust ablassen mussten, als Zielscheibe von Prügel, Spott und Gemeinheiten zu dienen. Ich habe während meiner Schulzeit nie gelernt, mich zur Wehr zu setzen, provozierte aber immer wieder durch meine große Klappe die Reaktion der anderen Schüler. Ich habe dort viel Grausamkeit und Gemeinheit von denen erlebt, die mit mir die Schulbank drücken mussten, und ich erlebte die Gleichgültigkeit derer, die eigentlich dazu eingestellt waren, die Schwächeren zu schützen und die Stärkeren zu zähmen. Selbst sexuelle Übergriffe auf Mädchen waren ein Kavaliersdelikt für diese Leute und eine normale Form männlicher Entwicklung. Gehalten wurden wir in einem Park mit Mauer und Gitterzaun drum herum. Wir lebten in acht kleinen Bungalows mit je 12 bis 16 Schülerinnen und Schülern. Im Park gab es mehrere gut ausgebaute Spielplätze, wo wir uns nachmittags aufhalten sollten. Die Zimmer, in denen wir lebten, waren vollkommen unpersönlich. Die Fenster unserer Zimmer waren nicht zu öffnen, sie waren fest in den Rahmen eingelassen. Bei einem Brand in unserer Wohngruppe hätte dies beinahe einmal zu einer Katastrophe geführt, aber geändert wurde daran nichts.
Die dürener Blindenschule war damals eine Maschinerie, die Kinder systematisch brach und zur Unselbständigkeit erzog. So gut das Unterrichtsniveau in Teilen auch war, so fürchterlich war unsere soziale und persönliche Entwicklung. Ich könnte ganze Bücher über meine Schulzeit schreiben, und angefangen habe ich damit. Neun Jahre lang durfte ich die „Annehmlichkeiten“ dieser Anstalt genießen. Meine dankbare Erinnerung gilt den Wenigen, die ich in den neun Jahren zu Freunden gewann unter denen, die mit mir die Schulbank drücken mussten. Für die brutalen Mitschüler, die nicht klar kamen mit der Härte und sich ihr anpassten, empfinde ich Mitleid. Verachtung bleibt für den Rest, für die Rädchen und Drahtzieher einer Maschinerie, die die Familie ersetzen sollte, den Gedanken dieser Familie aber pervertierte und uns Kinder als Objekte sah, die es zu formen und anzupassen galt.

Sieben Jahre lang kam ich nur am Wochenende nach hause, und ich hob die Familie in einen noch höheren Status als zuvor. Nur selten erzählte ich meinen Eltern von den Demütigungen in der Schule, ich wollte am Wochenende und in den Ferien nichts damit zu tun haben. Nur in den letzten zwei Jahren war ich Tagesschüler, fuhr also jeden Tag nach Hause. Und obwohl ich morgens um sechs Uhr abgeholt wurde und erst abends gegen halb sechs wieder zu hause war, waren diese zwei Jahre die beste Zeit in Düren.

5 Antworten zu Über mich

  1. Pingback: Ich komme ins Radio.. : dutchblog.de

  2. Hartmut Bock sagt:

    Mit Begeisterung und innerer Anteilnahme habe ich“ Über mich“ gelesen.

    Auf Ihre Webside bin ich durch einen Link Hinweis in einem Kommentar bei Ad sinistram gekommen.

    Ihre Biographie ist sehr spannend, interessant und hat mich sehr nachdenklich gestimmt. – Mein Geburtstag ist ebenso der 12. Februar !

    Ich wünsche Ihnen und Ihrer Frau weiterhin viel Mut und Zuversicht im Leben.

    Ihren Blog werde ich jetzt öfter besuchen !

    Gruß
    Hartmut

  3. Jan Vering sagt:

    Hallo, falls Sie am 30. April Zeit haben, würde ich Sie und Ihre Frau gerne nach Siegen ins Apollo-Theater einladen. Da läuft ab 19 Uhr die 34. und letzte Vorstellung unserer Eigenproduktion „Ich habe einen Traum“, ein Martin-Luther-King-Konzert. Näheres findet sich unter http://www.apollosiegen.de – es würde mich freuen, Sie kennenzulernen. Mit freundlichen Grüßen, Jan Vering (PS: Dieses ist garantiert der falsche Weg, Sie zu erreichen, aber ich weiß es leider nicht besser)

  4. Hallo,

    von unserer gemeinsamen Freundin Katrin bin ich auf diese Seite hingewiesen worden und lese mit Bestürzung und Bewunderung los. Würde mich sehr über einen Austausch freuen,

    viele Grüße von Kirsten

  5. nossy sagt:

    Herr Vering,

    ich bin zutiefst berührt von Ihren Geschichten aus dem Leben auf dieser Seite „Über mich“. Genießen Sie die Schönheiten Ihres Lebens gemeinsam mit Ihrer Frau.

    Alles Gute wünscht Ihnen,
    nossy

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