Meine Zeit auf dem Gymnasium in Marburg
Am 25. August 1984 kam ich nach Marburg, obwohl ich eigentlich gar nicht wollte. Ich wollte nicht noch weiter von zu hause weg, nicht in ein Internat, wo ich nur alle vier Wochen für 2 Tage nach hause kam. Aber meine Eltern setzten sich durch, und sie setzten auf meine Vernunft und Intelligenz. Schweren Herzens stimmte ich also zu. Und so kam ich zur Deutschen Blindenstudienanstalt, dem einzigen Gymnasium für Blinde und Sehbehinderte in der Bundesrepublik Deutschland. Das war zumindest damals noch so. Der Unterschied zur Blindenschule in Düren war gravierend. Das Personal der aus rund 10 Schülerinnen und Schülern bestehenden Wohngruppen, die in gut ausgebauten Wohnungen lebten, bestand aus Sozialpädagogen und Diplompädagogen, und sie bemühten sich, uns in unserem Leben eine gute Richtung zu geben. Die Erziehung zu mehr Selbständigkeit, zu mehr Verantwortung und Entscheidungsbefugnis war ihre Aufgabe und ihr Ziel. Dabei vergaßen sie leider oft die menschliche Dimension unserer Situation. Auch sie betrachteten uns allzumeist als „Fälle“, mit denen man umgehen musste. Es gab selten menschlich gute Beziehungen, obwohl sie sich locker gaben, uns das „du“ anboten und versuchten, sich kollegial und aufgeschlossen zu geben. Konflikte waren vorprogrammiert, und es gab sie auch reichlich. Ich habe in meinen Wohngruppen kriminelle Aktionen, Prügeleien bis zur Bewusstlosigkeit und ratlose Betreuer erlebt. Das schulische Niveau war ziemlich hoch, und der Unterrichtsstil unterschied sich meist wohltuend von der früheren Paukerei. Diskussion und eigene Meinung waren gefragt. Für Kinder, die aus einer autoritär und straff geführten Einrichtung kamen, war die Umstellung oftmals ein Schock. In seltenen Fällen wurde aus zu viel Kontrolle auf einmal zu wenig Kontrolle, und ich habe einen Fall erlebt, in dem die Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit der Betreuungspersonen letztlich zum Drogentod eines Schülers führten, der mit der plötzlich gewonnenen Freiheit nach seiner Zeit in Düren einfach nicht zurecht kam.
Wenn ich tatsächlich alle vier Wochen für ein kurzes Wochenende nach hause kam, oder wenn ich Ferien hatte, fuhr ich mit meinen Eltern nach
Heelderpeel, einem Campingplatz und Freizeitpark in den Niederlanden. Seit dem 4. April 1982 hatten wir dort ein kleines Zelthaus, das wir für gut 1000 Mark gekauft hatten. Mein Vater, der als junger Mann Möbel- und Bauschreiner gelernt hatte, baute es innerhalb mehrerer Jahre zu einem schönen Holzhaus aus. Ich war liebend gern dort, denn dieser Platz, mitten im Hochwald gelegen und ziemlich verkehrsberuhigt, strahlte eine Ruhe und Geborgenheit aus, die ich mir in meiner Freizeit sehr wünschte. Außerdem waren die Menschen dort so freundlich und warmherzig, dass wir schnell Freundschaften schlossen und der Mittelpunkt einer kleinen, aber verschworenen Gemeinschaft waren, die dort zufrieden und fröhlich ihre freie Zeit verbrachte. Als mein Vater am 15. Januar 1989 plötzlich und unerwartet starb, löste sich diese Gruppe ganz langsam auf, zumal mindestens ein weiterer Todesfall anfang der neunziger Jahre unsere Zahl weiter dezimierte.
Sieben Jahre lang arbeitete ich auf mein Abitur hin, und ich bestand es im Juni 1991. Ich freute mich auf mein Leben außerhalb der Schule, konnte aber nicht ahnen, was es mir bringen würde. Obwohl wir an der BliSta, wie sich die „Blindenstudienanstalt“ abkürzt, sehr wohl lernten, uns in Marburg zu bewegen, für unsere Wohngruppen einzukaufen und ähnliche Dinge, und obwohl wir durchaus wussten, wo es die interessantesten Kneipen in Marburg gab, waren wir doch nur unzureichend auf das Studentenleben vorbereitet. Zumindest gilt das für mich und einige Andere, die ich kenne. Plötzlich, von einem Tag auf den Anderen, wurden wir entlassen. Soziale Kommunikation, die Fähigkeit, sich durchzusetzen, um Hilfe zu bitten und Kontakte außerhalb der „Blindenwelt“ zu knüpfen, das hatten wir nicht oder nur unzureichend gelernt. Und viele von uns wussten auch noch nicht, wie die Umwelt auf uns zugehen würde.
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Mit Begeisterung und innerer Anteilnahme habe ich“ Über mich“ gelesen.
Auf Ihre Webside bin ich durch einen Link Hinweis in einem Kommentar bei Ad sinistram gekommen.
Ihre Biographie ist sehr spannend, interessant und hat mich sehr nachdenklich gestimmt. – Mein Geburtstag ist ebenso der 12. Februar !
Ich wünsche Ihnen und Ihrer Frau weiterhin viel Mut und Zuversicht im Leben.
Ihren Blog werde ich jetzt öfter besuchen !
Gruß
Hartmut
Hallo, falls Sie am 30. April Zeit haben, würde ich Sie und Ihre Frau gerne nach Siegen ins Apollo-Theater einladen. Da läuft ab 19 Uhr die 34. und letzte Vorstellung unserer Eigenproduktion „Ich habe einen Traum“, ein Martin-Luther-King-Konzert. Näheres findet sich unter http://www.apollosiegen.de – es würde mich freuen, Sie kennenzulernen. Mit freundlichen Grüßen, Jan Vering (PS: Dieses ist garantiert der falsche Weg, Sie zu erreichen, aber ich weiß es leider nicht besser)
Hallo,
von unserer gemeinsamen Freundin Katrin bin ich auf diese Seite hingewiesen worden und lese mit Bestürzung und Bewunderung los. Würde mich sehr über einen Austausch freuen,
viele Grüße von Kirsten
Herr Vering,
ich bin zutiefst berührt von Ihren Geschichten aus dem Leben auf dieser Seite „Über mich“. Genießen Sie die Schönheiten Ihres Lebens gemeinsam mit Ihrer Frau.
Alles Gute wünscht Ihnen,
nossy