Meine Studentenzeit
Am 14. Oktober 1991 begann meine Studentenzeit an der Philippsuniversität in Marburg. Ich hatte vor, Rechtswissenschaften zu studieren. Ich ging relativ naiv an die Sache heran, denn ich hatte mich schon seit meiner frühen Kindheit für Jura und Politik interessiert. Ich hatte sogar den Vorteil einer leichten Vorbildung. Aber die Probleme begannen sofort. In einem Hörsaal mit über 400 Leuten war es für mich nicht möglich, eine Person, mit der ich mich treffen wollte, wiederzufinden, und da man von Studenten zunächst einmal nur den Vornamen erfährt, und ich meine Gesprächspartner ja auch nicht beschreiben konnte, wurde die Kommunikation ziemlich erschwert. Außerdem glaubten viele Studenten wohl, dass Behinderte in einer Lerngruppe nur eine Last seien, weil sie alles vorgelesen bekommen mussten. Und zum dritten wäre es notwendig gewesen, dass ich mich um entsprechende Hilfsmittel bemüht hätte. Ich hatte in diesen praktischen Dingen, das muss ich zugeben, keine Ahnung, und außerdem wurde ich eingeschüchtert durch das Verhalten meiner Komilitonen. Wenn ich nach einer Vorlesung aus dem Hörsaal kam, und ich hörte Studenten über die Vorlesung reden, und wenn ich versuchte, mich in ein Gespräch einzuschalten, verstummten die Gespräche sofort, und eine mitfühlende Seele fragte auf der Stelle: „Brauchst du etwas? Willst du wissen, wo der Kaffeeautomat ist?“ Das waren dieselben Leute, die innerhalb der Stunde teils kontrovers, bestimmt aber auf interessante Weise mit mir diskutiert hatten. An der Hörsaaltür hörte dies alles auf. Ich hatte in den Internaten nie gelernt, mich adäquat zu verhalten, war fast nie mit sehenden in Berührung gekommen.
Zum selben Zeitpunkt erfuhr ich, dass mein Bruder unheilbar an Lungenkrebs erkrankt war. Er starb am 1. April 1992, und von diesem Zeitpunkt an litt ich für lange Zeit unter Depressionen, ohne mir und anderen Menschen dies einzugestehen. Ich hörte gänzlich mit dem Studium auf, und ich lebte allein und unbeachtet, zumindest was meine direkte Umgebung betraf, in einem Studentenwohnheim in Marburg. Gott sei dank hatte ich aus meiner Schulzeit noch einige wirklich gute Freunde, aber auch denen gegenüber versuchte ich, so zu tun, als wäre alles normal. Ich war es nie gewohnt, ein totaler Versager zu sein, und diese Zeit gehört mit Sicherheit zu den Schwierigsten meines Lebens.
Ab dem 16. April 1994, für die Studienförderung ein Semester zu spät, versuchte ich es erneut mit dem Fach Politikwissenschaften. Ich kam tatsächlich ein wenig voran, allerdings gab ich das Studium nach einigen Jahren aus eigenem Entschluss auf, um mich auf anderen Gebieten zu engagieren. Heute frage ich mich, ob dies vielleicht ein Fehler war. Aber selbst 1997 fühlte ich mich in einer Umgebung von Menschen, die ebenfalls soziale und kommunikative Probleme hatten, wohler als draußen in der für mich immer noch feindlichen Universität. Vielleicht habe ich auch begriffen, dass das Studium ohne Leute, mit denen man es zusammen anfängt und durchsteht, für mich nichts ist.
Seit dem 30. August 1993 bin ich mit meiner Liebsten Bianca, einer alten Schulfreundin von mir, fest zusammen, und seit dem 4. September 1994 haben wir eine gemeinsame Wohnung. Das Glück wurde perfekt, als meine Freundin am 18. Februar 1995 einen Blindenführhund namens Holly erhielt, die seither in unserem Leben eine wichtige Rolle spielte. Meine Beziehung war es auch, die mich aus den Depressionen nach dem Tode meines Bruders heraus riss. Deswegen habe ich auch noch einmal einen Studiengang versucht, aber all diese Versuche endeten abrupt am 20. Mai 1997.
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Mit Begeisterung und innerer Anteilnahme habe ich“ Über mich“ gelesen.
Auf Ihre Webside bin ich durch einen Link Hinweis in einem Kommentar bei Ad sinistram gekommen.
Ihre Biographie ist sehr spannend, interessant und hat mich sehr nachdenklich gestimmt. – Mein Geburtstag ist ebenso der 12. Februar !
Ich wünsche Ihnen und Ihrer Frau weiterhin viel Mut und Zuversicht im Leben.
Ihren Blog werde ich jetzt öfter besuchen !
Gruß
Hartmut
Hallo, falls Sie am 30. April Zeit haben, würde ich Sie und Ihre Frau gerne nach Siegen ins Apollo-Theater einladen. Da läuft ab 19 Uhr die 34. und letzte Vorstellung unserer Eigenproduktion „Ich habe einen Traum“, ein Martin-Luther-King-Konzert. Näheres findet sich unter http://www.apollosiegen.de – es würde mich freuen, Sie kennenzulernen. Mit freundlichen Grüßen, Jan Vering (PS: Dieses ist garantiert der falsche Weg, Sie zu erreichen, aber ich weiß es leider nicht besser)
Hallo,
von unserer gemeinsamen Freundin Katrin bin ich auf diese Seite hingewiesen worden und lese mit Bestürzung und Bewunderung los. Würde mich sehr über einen Austausch freuen,
viele Grüße von Kirsten
Herr Vering,
ich bin zutiefst berührt von Ihren Geschichten aus dem Leben auf dieser Seite „Über mich“. Genießen Sie die Schönheiten Ihres Lebens gemeinsam mit Ihrer Frau.
Alles Gute wünscht Ihnen,
nossy