Erinnern Sie sich noch? – Massenmord in Srebrenica vor den Augen der Welt

Serben erobern Moslemenklave Srebrenica am 11.07.1995

Wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht, war ich in Holland. Aber damit fängt das Dilemma schon an. Eigentlich müsste ich es wissen, aber zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich schon gar nicht mehr hinhörte. Die Erinnerung ist so schwach, wie vieles aus der Zeit.

Ich weiß, dass es Unruhen in Ost-Timor gegeben hat. Ich weiß, dass Helmut Kohl immer noch Bundeskanzler war. Und irgendwie glaube ich mich an eine Nachrichtensendung des ANP, des „allgemeinen Niederländischen Pressebüros“ zu erinnern, in der es hieß, die Moslemenklave Srebrenica sei gefallen. In den Niederlanden gab es dazu natürlich wesentlich mehr als in Deutschland, denn die Blauhelme, die dort stationiert waren, waren Niederländer.

Als der Krieg in Jugoslawien begann, im Juni 1991 und dann richtig ab März 1992, da war er auch für mich ein wichtiges Thema. Ich hörte vom Einfall der Jugoslawischen Armee und serbischer Truppen in Bosnien-Herzegovina, und von den Vertreibungen von Kroaten und Moslems, von ethnischen Säuberungen und Massenvergewaltigungen muslimischer Frauen. Ich habe entsetzt erlebt, dass die internationale Staatengemeinschaft zusah und fast keinerlei Druck auf den jugoslawischen Präsidenten Milosevic ausübte, und das, obwohl seine Truppen schwere Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Gerade die sogenannten „ethnischen Säuberungen“, die planmäßigen Vertreibungen der muslimischen Bevölkerung aus ihrer Heimat, und die systematischen Vergewaltigungen muslimischer Frauen durch brutale serbische Truppen verabscheute ich bis in mein Innerstes. Meine Freunde und ich, die wir uns gern miteinander über politische Themen unterhielten, verurteilten diese Praxis aufs schärfste, und wir konnten einfach nicht verstehen, warum NATO, UNO und europäische Union nichts unternahmen, um diese Menschen zu schützen.

Aber im Juli 1995 habe ich geglaubt, der Krieg gehe nie zuende, und mein Entsetzen hatte sich in Wut und Ablehnung verwandelt. „Man sollte um das ganze Gebiet eine riesige Mauer bauen und abwarten, was passiert“, hörte ich damals oft. Und ich war geneigt, mich dieser auffassung anzuschließen. Alle Bemühungen auf dem Verhandlungswege, einen gerechten Frieden zu erreichen, waren gescheitert, und die UN-Schutzzonen wurden von den serbischen Truppen belagert und augenscheinlich nicht ernst genommen.

Heute vermute ich, dass es Verhandlungen zwischen NATO, UNO, EU, Jugoslawien, Kroatien und Bosnien gab. Ich nehme an, dass man einen Handel wie in München im Jahre 1938 machte. Natürlich habe ich dafür keine Beweise, aber ich fürchte, dass es so gelaufen sein könnte. Denn wenige Monate nach dem Fall von Srebrenica kam plötzlich ein Friedensvertrag zustande, das sogenannte Abkommen von Dayton. Die Geheimabsprache, die ich mir vorstelle, könnte ungefähr so ausgesehen haben: Aufgabe der UN-Schutzzonen auf dem serbischen Teil Bosniens, dafür Waffenstillstand und Friedensverhandlungen, einen dreigeteilten Staat mit loser Verbindung. Die bosnische Regierung wird vermutlich zum Wohle ihrer Bürger kaum eine Wahl gehabt haben, als einem solchen Abkommen zuzustimmen. Die Moslemenklaven auf dem von den Serben beanspruchten Territorium waren somit dem Gegner preisgegeben. Wie gesagt, ich weiß nicht, ob es eine solche Konferenz gegeben hat. Aber sicher ist, dass im April 1995 die bosnischen Milizen sich aus Srebrenica zurückzogen und die Niederländer dort allein ließen.

Was am 11. und 12. Juli 1995 genau geschah, habe ich nicht mitbekommen. Ich hörte nur in den Nachrichten, die Enklave sei gefallen. Erst einige Tage später, als die niederländischen Soldaten wieder zu hause waren, und als sie von Psychologen befragt und betreut wurden, kamen einige Greueltaten ans Licht. Verschleppung und Vergewaltigung von Frauen zum Zwecke der „Heranzüchtung serbischen Nachwuchses“, und Ermordung vieler wehrfähiger Männer der Enklave. Zum ersten mal war in den niederländischen Medien der Satz zu hören, die Soldaten von Dutchbat, dem holländischen UNO-Bataillon in der Enklave, hätten sich falsch verhalten. Oberstleutnant Tom Karremans, der Befehlshaber der niederländischen Soldaten, verteidigte sich, ohne allerdings die Wahrheit über die Ereignisse des 11. Juli in der Öffentlichkeit zu sagen.
Bei Geo.de kann man die Chronologie nachlesen.

Wenn ich heute darüber nachdenke, schäme ich mich, den Ereignissen damals nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Sie waren grausam, und sie hätten eigentlich einen Sturm der Entrüstung nach sich ziehen sollen. Als die Bilder, die zeigten, wie Oberstleutnant Karremans mit General Mladic Champagner trank, um die Welt gingen, entsetzte mich das zwar, aber ich habe es in die lange Reihe der Ereignisse eingefügt, bei denen UNO und NATO all zu nachsichtig gegenüber den serbischen Aggressoren waren.

Sieben lange Jahre sollte es dauern, bis ich wieder an Srebrenica erinnert wurde. Am 10. April 2002 veröffentlichte das Niederländische Institut für Kriegsdokumentation (NIOD) einen Report über die Ereignisse von Srebrenica. Zwar sprach dieser Bericht die niederländischen Soldaten von Dutchbat und die Regierung von Schuld größtenteils frei, aber es wurden doch einige Fakten aufgeführt, die sehr beunruhigend waren. Da sei von Dutchbat Luftunterstützung angefordert worden, die aber aufgrund von Missverständnissen nicht gewährt worden sei, und als sie dann gewährt wurde, war es zu spät. Andererseits habe es auch Kommunikationsprobleme zwischen den Niederländern von Dutchbat und der Kommandoebene der UN-Soldaten in Bosnien gegeben. Diese Ereignisse führten dazu, dass 8000 muslimische Männer von den Serben, fast unter den Augen von Dutchbat, grausam ermordet wurden. Von den Frauen, die in Srebrenica zurückbleiben mussten und nicht mit Bussen an die Grenze zum muslimischen Teil Bosniens gekarrt wurden, von den Frauen, die sich grausamen Massenvergewaltigungen ausgesetzt sahen, spricht heute niemand mehr.

Am NIOD-Report gibt es auch in den Niederlanden inzwischen erhebliche Zweifel. Weniger an seinen chronologischen Fakten, die werden sogar als sehr gut recherchiert bezeichnet, als vielmehr an den Schlüssen, die daraus gezogen wurden. Nur oberflächlich wird die Einstellung der niederländischen Soldaten und vor allem ihres Befehlshabers Karremans zu den Menschen beleuchtet, die man in Srebrenica schützen sollte. Überlebende von Srebrenica haben mittlerweile einige Vorgänge berichtet, die darauf schließen lassen, dass es antimuslimische Gefühle bei den Niederländern gab. Wenn es stimmt, dass sie deswegen den Serben gegenüber zu nachsichtig waren, haben sie schwere Schuld auf sich geladen.

Dadurch komme ich noch einmal zurück auf meine Verschwörungstheorie. Sicher ist, dass die Moslemenklaven auf serbischem Gebiet eine Teilung des Landes und damit einen Friedensvertrag mit Jugoslawien behinderten, denn die Serben bestanden auf einem zusammenhängenden Gebiet, und auch für die UNO und die EU war das einfacher zu handhaben. Deshalb halte ich es gar nicht für so abwägig, dass man ganz bewusst Dutchbat die Unterstützung versagte, als es so weit war. Außerdem hatte Dutchbat keinen Schutzauftrag gegenüber der Zivilbevölkerung von Srebrenica. Vor allem galt es, sich selbst zu schützen. Nur im äußersten Notfall sollte Gewalt angewendet werden. 400 meist schlecht bewaffnete Soldaten konnten gegen die 1500 anrückenden Serben wohl kaum etwas ausrichten. Trotzdem: Als Karremans wieder aus Bosnien heraus war, lobte er auf einer Pressekonferenz in Zagreb das „hervorragende, generalstabsmäßige Vorgehen“ der serbischen Einheiten. Dies scheint die These von der halbwegs guten Freundschaft der Niederländer mit den Serben zu bestätigen.

Sechs Tage nach dem Niod-Report und 29 Tage vor den Parlamentswahlen trat die niederländische Regierung unter Wim Kok zurück. Kok, der sowieso nichts mehr zu verlieren hatte, nahm die politische Verantwortung auf sich. Der Verteidigungsminister, der während des Massenmordes von Srebrenica Verantwortung trug, war bereits zuvor abgetreten. Oberstleutnant Karremans jedoch wurde zum Oberst befördert und arbeitet derzeit in Deutschland.

Wenn die Vereinten Nationen schon Schutzzonen einrichten, so dachte ich damals und so denke ich immer noch, dann ist es auch ihre Pflicht, diese Zonen zu schützen. Daran aber bestand offenbar politisch im Sommer 1995 kein Interesse mehr. Ebensowenig bestand das Interesse, Mladic und seinen Präsidenten Karadzic festzunehmen. Journalisten wussten bis Ende der neunziger Jahre, wo genau sich Mladic aufhielt, und täglich fuhren NATO-Soldaten an dem Bunker vorbei, ohne den Mann festzunehmen und ihn vor das UN-Tribunal zu bringen. Die internationale Staatengemeinschaft hat unglaublich große Schuld auf sich geladen, anstatt mit ihren Mitteln der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen.

Erst seit dem NIOD-Report habe ich mich wieder mit Srebrenica befasst, und heute habe ich wieder viel darüber gelesen. Kalte Wut und Enttäuschung über das Verhalten von UNO, EU und NATO beherrschen mein Gefühlschaos zu diesem Thema. Und Scham. – Ist es denn ein Wunder, wenn in manchen Regionen der Welt der Hass auf den Westen immer größer wird? Politische Taktik wurde im Fall Srebrenica über Menschlichkeit gestellt, und die westliche Welt hat ihre Glaubwürdigkeit verloren. Deshalb ist es richtig, dass auch 10 Jahre nach den Greueltaten von Srebrenica die Opfer immer noch nach Gerechtigkeit rufen. Ich fürchte allerdings, dass sie sie nicht bekommen werden, auch nicht von niederländischer Seite.

Nachtrag vom 12. Juli 2005

Jetzt, wo die Gedenkfeiern zuende sind, ist meine Wut und Scham noch größer geworden. 40000 Menschen waren erschienen, um weitere 600 Menschen zu begraben, deren Identität endlich ermittelt wurde. Zugegen waren Vertreter der UNO, Vertreter des amerikanischen Präsidenten, Vertreter der europäischen Union, Der serbische Präsident, der britische und der niederländische Außenminister. Leere Worthülsen wurden ausgetauscht. Die internationale Staatengemeinschaft habe Fehler gemacht, hieß es. Kein Wort der Entschuldigung. Der niederländische Außenminister Bot hielt eine Entschuldigung nicht für notwendig. Was soll man von dem Außenminister eines Landes erwarten, dass einen grausamen Kolonialkrieg in Indonesien bis heute nur eine „Polizeiaktion“ nennt. Es müssen wohl noch viele Jahrzehnte vergehen, bis die holländer sich endlich trauen, in den Spiegel zu schauen und sich ihre Schuld einzugestehen. Wenn es war ist, dass es ein geheimes Abkommen über den Frieden gab, bei dem dann auch beschlossen wurde, das Mladic ungeschoren blieb, dann ist es auch wahr, dass man wohl beschlossen hat, die Rolle von Dutchbat und ihren Vorgesetzten reinzuwaschen. Ein junger Mann, der für Dutchbat als Übersetzer gearbeitet hatte, erzählte in erschütternden Worten, wie seine Eltern und sein kleiner Bruder als letztes das Gelände von Dutchbat verlassen mussten. Sie wurden nie wieder gesehen. Der Befehl zur Räumung kam von Dutchbat…

Als die Trauergäste heute, vor allem die muslimischen Frauen und Jugendlichen, wieder Srebrenica verließen, und wie vor 10 Jahren in Bussen abtransportiert wurden, hatten Serben in der Stadt rechts und links der Straße brennende Autoreifen aufgestellt. Ein brennendes Zeichen ihrer Überlegenheit und der Verachtung für die Opfer ihres Terrors. Auch heute noch.

Land von Maas und Waal, kleines, stolzes und arrogantes Land. Solltest du von Deutschland gelernt haben, wie man die Vergangenheit tot schweigt? Srebrenica, ein Ort in Europa, viele viele Jahre nach dem zweiten Weltkrieg. Ein Ort mit unsagbar vielen Toten. Die internationale Staatengemeinschaft und die Niederlande haben nicht versagt, sie haben sich vergangen und unsagbare Schuld auf sich geladen. Der Oberbefehlshaber der niederländischen Streitkräfte von damals, General Kuzie, hat sich die Gedenkfeier nicht einmal angeschaut. „Es hat viele schreckliche Dinge in den letzten Jahren gegeben. Man kann sich nicht um alles kümmern“, sagte er. Wenn ich nicht wüsste, dass ich viele gute Erfahrungen in Holland gemacht habe, wäre das Königreich der Niederlande spätestens seit heute für mich nur noch ein Fleck auf der Landkarte.

Copyright © 2005, Jens Bertrams.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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2 Antworten zu Erinnern Sie sich noch? – Massenmord in Srebrenica vor den Augen der Welt

  1. anonymeruser sagt:

    ich weiß nicht ob du die seite noch aktiv betreibst oder ob du dich noch überhaupt an den beitrag interessierst, für mich klasse geschrieben !
    kann man nix sagen hut ab bist der deutschen sprache echt mächtig und weißt auch wie du die worte zu wählen hast !

    nun zum thema, naja ich bin da aus der region, also aus dem balkan, wenn ich mir die videos der hinrichtungen anschaue, puuh ich weiß nicht wie ich dieses gefühl nennen soll, es ist zum teil wut, aber es ist nicht die wut die ich hab wenn etwas nicht läuft wie ich es will oder jemand blödsinn hinter meinem rücken redet, ich kenne diese jungen männer auf den videos nicht und dennoch , irgendwie ist es so als wär ich einer von ihnen, ich stell mir vor was wären meine letzten gedanken wenn ich seh das vor mir jemand ohne gnade niedergemetzelt wird und ich den befehl bekomm zwei schritte vorwärts zu gehen und ich genau weiß gleich kommts, gleich kommen die schmerzen im rücken , zwar nur für einen kurzen moment aber sie werden da sein und dann? nichts ich werd tot sein, warum? nur weil ich nicht an das glaube wie die serben? nur weil ich für sie nicht so wertvoll bin weil ich kein serbe bin? nur weil ich alt genug bin und somit eine bedrohung darstelle da ich zur waffe greifen könnte irgendwann mal?

    kann es echt schlecht beschreiben, aber es ist ein gefühl welches ich hab was mich echt erschüttert, klar morgen ist samstag da geh ich feiern , übermorgen soll gutes wetter sein bin ich vielleicht am see , also da denk ich nicht direkt dran , dass leben geht ja weiter aber ich mein ich hab da so eine erschütterung in mir so eine die mir sagt das da was falsch läuft auf dieser welt…. überlebenskampf ist von der natur aus gegeben , wenn es denn so wäre, dann würd ich sagen okay, es geht ums überleben der eine mensch bringt den andern um aber hier geht es um geschichten die echt total krank sind…. das war ja kein überlebenskampf das die serben zu wenig zu essen hatten, serbien war damals auch schon wohlhabender als bosnien…ABER auch der überlebenstrieb ist für mich keine ausrede schließlich sind wir doch zivilisiert? wir sind doch „über unseren trieben hinweg“ wir beherrschen sie und nicht sie uns!! zumindestens sollte es so sein von daher gibt es für MICH keine logische erklärung wieso man einen anderen menschen der gerade mal 14 jahre alt ist oder 30 oder wie alt auch immer gnadenlos abknalle… versteh ich nicht , egal wie sehr ich mich da hineinversetze , es hat nichts logisches an sich es ist irgendwas böses ,krankes aber nichts menschliches !

    traurig ist das die serbische regierung bis heute nicht die taten zu gibt und sich entschuldigt auch nich beim kosovo und das muss ich diesem land (gemeint ist deutschland) hoch anloben, ihr habt euch entschuldigt und zahlt bis heute noch an die opferländer, von serbischer seite aus kennt man sowas nicht, schaut man sich bissl auf youtube und sonstigen seiten um erkennt man diese nationalistische geschlossene ader …. shame on tadic heißt es da im gleichen moment , bravo mladic , der übrigens heute bzw. gestern gefasst wurde…..schade das es in der bevölkerung so viele gibt die solche leute anbeten und als ihre helden sehen……

  2. Pingback: Orden für Dutchbat – das kann ich nicht glauben! | Mein Wa(h)renhaus

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