Urteil gegen den Parlamentarismus

Das Bundesverfassungsgericht stärkt der Regierung den Rücken

Die Folgen des Verfassungsgerichtsurteils über Schröders Vertrauensfrage und die Durchführung von Neuwahlen sind bis jetzt noch nicht absehbar. Nachdem der Urteilstext bekannt ist, empfinde ich es als einen Schlag gegen den Parlamentarismus in Deutschland.

Die Fragestellung ist bekannt: Darf der Bundeskanzler trotz einer parlamentarischen Mehrheit eine Vertrauensfrage zur Herbeiführung von Neuwahlen stellen und bewusst verlieren? – Auch die Antwort kennen wir seit 22 Jahren. Damals hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass es unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist. Eine solche „unechte Vertrauensfrage“ sei nur zulässig, wenn es eine tatsächliche Krisensituation gebe, die die Verhältnisse im Bundestag so erscheinen ließen, dass eine „vom stetigen Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragene“ Regierungsarbeit für die Zukunft nicht mehr ausreichend gesichert erscheint. Damals begründete man die Bundestagsauflösung mit der schwierigen Situation der F. D. P. Ganze Landesverbände und einige Fraktionsmitglieder versagten der Parteiführung die Gefolgschaft, und es gab Anzeichen für ein Auseinanderbrechen der Partei. Obwohl die parlamentarische Mehrheit für den Moment ausreichend war, wäre es ja möglich, dass bei wichtigen Streitfragen die Mehrheit der Regierung nicht zustande käme, und dass so ein verlässliches Regierungsprogramm gefährdet würde. Das war für das Gericht die „materielle Auflösungslage“, und so wurden die Neuwahlen genehmigt.

Im Jahre 2005 liegt der Fall anders. Die parlamentarische Mehrheit ist dünn aber beständig, und auch die umstrittenen Reformgesetze, gerade Hartz IV, wurden mit allen Stimmen der Regierungsfraktionen verabschiedet. Schröder argumentierte nun, dass nach 11 verlorenen Landtagswahlen seit Bekanntgabe der Reformpläne ein Punkt erreicht sei, wo parteiinterne Kritiker ihn künftig zwingen könnten, seinen Kurs zu ändern, auch wenn sie sich jetzt noch vertrauensvoll hinter ihn stellten und keines der Gesetzesvorhaben der Regierung blockierten. Partei- und Fraktionsintern allerdings werde kräftig gewettert, und man habe diese Kritik ja auch in der Presse lesen können, weshalb nach seiner Einschätzung eine „Vom stetigen Vertrauen der Mehrheit“ des Bundestages getragene Regierungspolitik in absehbarer zeit nicht mehr möglich sein werde. Für mich, und übrigens auch für den Richter Jensch beim Bundesverfassungsgericht, der eine abweichende Meinung zu Protokoll gab, ist dieser Teil der Kanzlerargumentation sehr dünn.

Das Bundesverfassungsgericht hat Schröder nun beigestanden, indem es zunächst einmal den Begriff der „auflösungsgerichteten Vertrauensfrage“ schuf und feststellte, dass diese – wie 1983 schon gesagt – unter bestimmten Bedingungen rechtlich unbedenklich sei. Zum Beispiel bei einer sogenannten „verdeckten Minderheitssituation“. Dazu das Urteil: „Eine verdeckte Minderheitssituation des Bundeskanzlers tritt dann ein, wenn eine organisierte parlamentarische Mehrheit – die nominelle Kanzlermehrheit
– sich zwar zu dem von ihr gewählten Kanzler erklärt und ihm äußerlich politische Unterstützung leistet, diese Unterstützung seines politischen Kurses
aber in Wirklichkeit nicht so wirksam ist, dass der Bundeskanzler die von ihm konzeptionell vertretene Politik durchzusetzen vermag.“ Der Bundeskanzler muss die Einschätzung vornehmen, wann eine solche verdeckte Minderheitssituation gegeben ist. Dem kann das Verfassungsgericht nur dann widersprechen, wenn der Argumentation eines Kanzlers eine andere Sichtweise eindeutig vorzuziehen ist. Zweifel an der Sichtweise des Kanzlers, oder sogar die große Wahrscheinlichkeit seiner Unehrlichkeit reichen da nicht aus. Es muss eine Situation vorliegen, die „keinen anderen Schluss“ zulässt als den, dass der Kanzler mit seiner Einschätzung falsch liegt. Bevor das Bundesverfassungsgericht das ganze aber überprüfen kann, kommt ja noch der Bundestag und der Bundespräsident zu Wort. Weil es dieses dreistufige Prinzip gibt, dass der Kanzler die Vertrauensfrage stellt, das Parlament darüber abstimmt und der Präsident mit eigenem Ermessensspielraum den Bundestag auflöst, kann die Gerichtsprüfung dieser Angelegenheit fast nur formell entscheiden, ob alles seine Bahnen gegangen ist, weil das ganze System schon viele Sicherungen enthält. Außerdem sollen Gerichtsurteile den politischen Prozess der Verfassung nicht stören und in der Regel den politischen Handlungsträgern und ihren Einschätzungen vertrauen. Nur wenn die objektive Lagebeurteilung keinen anderen Schluss zulässt, als dass der Kanzler mit seiner Argumentation bezüglich des erwarteten Vertrauensverlustes nicht recht hat, nur dann kann das Bundesverfassungsgericht die Auflösungsentscheidung des Bundespräsidenten kassieren.

Im Klartext: Der Bundeskanzler hat das Recht, die Auflösung des Parlaments zu betreiben. Seine Begründung darf Tricks und Taktik enthalten, sie muss nur plausibel sein. Das Verfassungsgericht hält eine Auflösungslage für gegeben, wenn im parlamentarischen Raum Widerspruch aus den eigenen Fraktionen gegen die Kernziele der vom Kanzler verfochtenen Regierungspolitik zu hören ist. Zu deutsch: Der Kanzler darf den Bundestag auflösen lassen, wenn es kritische Stimmen gibt gegen seine Regierungspolitik. Dem hat Richter Jensch in seiner abweichenden Meinung wie ich finde aufs großartigste widersprochen: „Im Übrigen kann die Handlungsfähigkeit einer Regierung nicht bereits dann in Abrede gestellt werden, wenn ein Kanzler einzelne Reformvorschläge nicht mehr
durchzusetzen vermag. Denn dies ist – gewollte und zwingende – Folge des vom Grundgesetz konstituierten parlamentarischen Regierungssystems. Es spricht
dem Bundeskanzler zwar eine Richtlinienkompetenz zu (die sich ohnehin nur auf das Kabinett bezieht), geht aber grundlegend vom Bild des freien Abgeordneten
aus, der nicht in allen Einzelfragen monolithisch mit seiner Partei oder „seinem“ Kanzler auftreten muss. Wollte man dies anders sehen, so bliebe von der
in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG vorgesehenen Freiheit des Abgeordneten nicht viel übrig. Um aus dem von der Mehrheit abweichenden Stimmverhalten einzelner
Abgeordneter eine Lähmung der Handlungsfähigkeit der Regierung ablesen zu können, muss sich dieses daher jedenfalls auf zentrale, gerade im Kernbereich
der Richtlinienkompetenz des Kanzlers liegende Themen beziehen.“ Jensch stellte fest, dass die herangezogene Agenda 2010 immer mit den Stimmen der Regierungskoalition verabschiedet wurde, und dass auch die Kritiker zugestimmt hätten. Die bloße Behauptung, künftig könnte es abweichende Stimmen geben, kann daher nicht als Auflösungsgrund herangezogen werden.

Denn im Grunde stimmt es, was der Verfassungsjurist Jensch sagt: Eine abweichende Meinung einzelner Abgeordneter ist ein klarer Teil, eine gewollte Folge des grundgesetzlich verankerten parlamentarischen Regierungssystems. Es wäre ein schwerer Schlag gegen den Parlamentarismus, wenn der Kanzler immer dann, wenn er befürchtet, einmal nicht die Parlamentsmehrheit zu haben, den Bundestag kurzerhand auflösen lassen könnte. Dieses nämlich würde zu der von uns so sehr gefürchteten Instabilität führen, dazu, dass der Bundestag als Stimmvieh der Regierung am Gängelband des Kanzlers geführt wird. Zwar müsste er der Auflösung immer noch zustimmen, indem er den Antrag des Kanzlers auf Vertrauen ablehnt, da aber Fraktionszwang und Fraktionsdisziplin bei uns gang und gebe sind, wäre das kein großes Problem. Mit diesem Urteil, dass dem Bundeskanzler hier alle Freiheiten lässt, außer einer plumpen und einfach zu durchschauenden Lüge, ist das parlamentarische Regierungssystem eigentlich ausgehebelt. Die meisten Leute merken es nur noch nicht. Parteiinterne Diskussion, nicht bei Abstimmungen, sondern einfach innerhalb der Fraktionen, begründet ab sofort die sogenannte materielle Auflösungslage. Es liegt beim Kanzler, ob er das Misstrauen fühlt oder nicht, und es liegt bei seinem Fraktionsvorsitzenden, ob er die Koalition dazu bringen kann, bei der Vertrauensabstimmung sich zu enthalten. Dies wäre natürlich nur dann möglich, wenn er genügend Druck auf die Abgeordneten ausüben kann. So entsteht möglicherweise die paradoxe Situation, dass eine Vertrauensäußerung gegenüber dem Kanzler als Misstrauen gewertet wird, weil der Abgeordnete dem Wunsch zur auflösung, den der Kanzler geäußert hat, nicht folgt. Und Bundestagsabgeordnete müssen nun einmal ihrem Kanzler folgen, nicht wahr?

Wenn abweichende Meinungen und abweichendes Stimmverhalten einzelner Abgeordneter bereits eine instabile Lage in Deutschland darstellen, ja wenn dazu schon Unmutsäußerungen in der Presse reichen, ohne dass man bei den Abstimmungen gegen die Regierung stimmt, dann sieht es sehr schlecht für den Parlamentarismus aus. Dann wird in unserer ach so westlichen Demokratie der Bundestag nicht anders behandelt als das Stimmviehparlament in der DDR. Das konnte auch nur dem Regierungswillen zustimmen. Der einzige – und wie ich finde schlaue – Unterschied ist, dass hier bereits die Neinstimmen ins Kalkül mit einbezogen sind. Opposition ist eingeplant, aber der Kanzler bestimmt, wo es lang geht.

Da lobe ich mir andere Länder mit einem wesentlich lebendigeren demokratischen Umgang auch im Parlament. Die Niederlande sind für mich ein hervorragendes Beispiel. Dort kann auch Kritik aus den eigenen Regierungsfraktionen kommen, und wenn die Regierungsfraktionen gegen die Regierung sind, dann tritt die Regierung nicht zurück, sondern beugt sich dem parlamentarischen Willen. So sollte es sein, denn die Abgeordneten sind „Vertreter des ganzen Volkes“.

Natürlich gäbe es noch viel zu sagen übe dieses Urteil, aber ich wollte erst einmal das herausarbeiten, worüber niemand spricht, was mich aber wirklich entsetzt hat. Alle glauben, mit diesem Urteil wurde nur diese Parlamentsauflösung bestätigt. In Wirklichkeit wurde eine Lage geschaffen, die dem Kanzler in der Zukunft freie Hand gegen den Bundestag gibt, solange die Fraktionsdisziplin gewahrt bleibt. Und die Drohung, ihn beim nächstenmal nicht mehr auf die Landesliste zu setzen, hat schon so manchen Abgeordneten gefügig gemacht. Spätestens von jetzt an leben wir in einem Land mit einem Scheinparlament, zumindest teilweise. Alle vier Jahre können wir, so weit geht unsere Demokratie dann doch noch, immerhin zwischen Sozialabbau und noch mehr Sozialabbau entscheiden.

Copyright © 2005, Jens Bertrams.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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3 Antworten zu Urteil gegen den Parlamentarismus

  1. Das Nest sagt:

    an Hallo Jens!
    Ja, das wirft in der Tat ein traurigesLicht auf unseren Parlamentarismus. Das einzige, was noch ein wenig tröstlich erscheint ist, daß man das auch nicht unbegrenzt machen kann. Dadurch verlöre man auch das Vertrauen der WählerInnen. Dieses Vorgehen dürfte Schroeder auch diesmal schon einige Stimmen kosten. Und ich kann seine Idee auch immer weniger verstehen, es sei denn, er will im Grunde nicht an die Regierung und gibt die Macht freiwillig an Schwarz-gelb ab. Anfangs hielt ich ja noch was von Münteferings These, durch dieses drastische vorgehen könne den Ländern klar gemacht werden, daß durch ihre Blockadepolitik kein Regieren mehr möglich sei. Aber wenn ich mir jetzt so den Wahlkampf ansehe und was so durch die Medien geht, dann ist das nicht gerade eine Flut von einsichtsvollen Gedanken. So gesehen hat Schroeder unserer Demokratie auch noch völlig sinn- und grundlos geschadet.

  2. Ich glaube nicht, dass Schröder einen Moment an die Einsichtigkeit der Länder geglaubt hat. Ich glaube, er hatte einfach die Schnauze voll, sah, dass es kein Durchkommen mehr gab, und hoffte vielleicht noch, ein Aufschrei ginge durch das Land, und die SPD würde die kommenden Landtagswahlen wieder gewinnen. Er kann nicht geglaubt haben, die Bundestagswahl zu schaffen.

    Aber immerhin: Vielleicht hat er jetzt künftigen Kanzlerinnen und Kanzlern einen schönen Vorteil gegenüber dem Parlament besorgt. Für den Machtmenschen Schröder bestimmt ein Erfolg.

  3. Das Nest sagt:

    Hallo! Ja, das würde auch das halbherzige und lieblose Program der SPD erklären… Die wollen gar nicht gewinnen!

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