Seit Jahrzehnten leben wir in Deutschland mit einem festgefahrenen Parteiensystem, in das erst durch die Wiedervereinigung und vorher die Umweltbewegung ein wenig Bewegung geraten ist. Zu viele Parteien empfinden wir als großes Übel. In anderen Staaten ist das anders. Hier ein Überblick über das Niederländische Parteienwesen vor der Wahl am 22. November.
9 Parteien und 2 Gruppen, meistens Einzelpersonen, die sich von einer Fraktion abgespalten haben, sitzen derzeit im niederländischen Parlament. Die Wahrscheinlichkeit besteht, dass es nach den Parlamentswahlen in gut einem Monat noch erheblich mehr werden. 26 Parteien nehmen an den Wahlen teil, und die niederländische Parteienlandschaft ist in Bewegung geraten, ohne dass man dort von Weltuntergangsstimmung sprechen würde. Es ist völlig normal, dass Parteien sich umgruppieren, dass neue Interessengruppen entstehen, und dass es teilweise erhebliche Verschiebungen in der akzeptanz der unterschiedlichen Gruppen gibt.
Seit den frühen neunziger Jahren gibt es 8 Parteien, die eigentlich immer antreten.
Der CDA, der christlich-demokratische Appell, ist eine konservative Volkspartei. In den Niederlanden ist der Begriff „Volkspartei“ noch gar nicht so alt, denn dieses Land litt viele Jahrzehnte unter der Versäulung der Gesellschaft. Für jede konfessionelle oder gesellschaftliche Gruppe gab es eine eigene Vertretung und umgebung. Als Katholik beispielsweise las man katholische Zeitungen, besuchte katholische Ärzte, hörte katholische Radiostationen, ging auf katholische Schulen und so weiter. So gab es auch die unterschiedlichsten religiös oder gesellschaftlich motivierten Parteien. Der CDA ist ein später Zusammenschluss christlicher Parteien, und zwar Parteien aller konfessionen. Eine moderne, konservative Volkspartei mit europäischer und wirtschaftsliberaler Gesinnung entstand. Rund 30 Prozent der Niederländer gaben ihr in den letzten Wahlen ihre Stimme.
Die PVDA, die Partei der Arbeit, ist eine seit den vierziger Jahren bestehende Arbeiterpartei sozialdemokratischen Zuschnitts. Seit den siebziger Jahren bemühte auch sie sich, zur modernen Volkspartei zu werden. Mit ihrem charismatischen Spitzenkandidaten Wouter Bos hat sie das inzwischen erreicht. Traditionelle sozialdemokratische Wähler rückten nach und nach mehr von der Partei ab, während sich die Wähler der neuen Mitte, ganz wie in Deutschland, ihr zuwandten. Manchmal hat man allerdings bei der PVDA wie bei der SPD das Gefühl, die Partei weiß nicht so genau, ob sie Fisch oder Fleisch ist. Die PVDA ist NATO- und EU-treu, sozial-marktwirtschaftlich orientiert und ebenfalls eine Volkspartei, die der Versäulung entgegenwirkt. Auch ihr Stimmenanteil liegt bei rund 30 Prozent. Man sah sie in den letzten Monaten als Gewinnerin der kommenden Wahlen, doch der Vorsprung ist dahingeschmolzen, und die Möglichkeit einer linken Regierung in den Niederlanden scheint immer mehr zu verblassen.
Die Volkspartei für Freiheit und Demokratie, VVD, ist eine rechtskonservative, neoliberale Wirtschaftspartei, die in den Niederlanden größere Zustimmung genießt, als die F. D. P. in Deutschland. Rund 17 Prozent der Wähler haben in den letzten Jahren der VVD ihre Stimme gegeben. Die VVD möchte am liebsten mit dem CDA die kommende Regierung bilden. Jetzt schon stellen sie gemeinsam die Minderheitsregierung Balkenende III. Dieser Partei entstammt auch die so umstrittene Integrationsministerin Rita Verdonk, über die hier schon mehrfach berichtet wurde.
Von dieser VVD spaltete sich mitte der sechziger Jahre eine Bewegung ab, die sich D66, Demokraten 66, nennt. Sie ist eine linksliberale Partei und war damals ein Sammelbecken des Protestes. Sogar gegen das Königshaus richtete sie sich, was im Grunde undenkbar schien. Sie war ein politischer Ausdruck des Jugendprotestes in den sechziger Jahren, der politisch in Deutschland an den Parteien fast spurlos vorbei ging. Inzwischen sinkt die Zustimmung für die Protestpartei, die längst etabliert ist und verzweifelt nach einem neuen Sinn für sich selbst sucht, den sie offenbar nicht findet. Sie ist zu einer pragmatischen Partei geworden, die der VVD in Wirtschaftsbelangen näher steht wie der PVDA, und sie verliert ständig an Farbe und Profil. Sie verbraucht ihre Spitzenkandidaten recht schnell, und derzeit würden wohl nur noch 1 bis 2 Prozent der Wähler den D66 ihre Stimme geben.
GroenLinks ist ein Sammelbecken der Umwelt-, Friedens- und Frauenbewegung. Sie ist auch die einzige in der zweiten Kammer vertretene Partei, die eine Frau an der Spitze der Fraktion sitzen hat, die charismatische Femke Halsema. Zwar ist auch GroenLinks in der Wirklichkeit angekommen, hat aber noch nicht alle ihre Forderungen verraten. Tier- und Umweltschutz, Soziale Gerechtigkeit, Friedenund internationaler Ausgleich. Trotzdem verliert die Partei in letzter Zeit die Zustimmung der Wähler, vielleicht gerade weil sie versucht, Realpolitik mit der Beibehaltung ihrer Ideale zu verbinden. Oder auch, weil der große Streit sich inzwischen wie in vielen anderen Ländern auch um die Personen dreht, die die Möglichkeit haben, Ministerpräsident zu werden.
Falk Madeja hat in seinem Blog einen Beitrag über die sozialistische Partei , SP, und ihren Spitzenkandidaten Jan Marijnissen geschrieben. Als maoistische Kleingruppe mitte der siebziger Jahre entstanden, hatte die Partei schnell ein Rezept gefunden, um sich den Wählern anzunähern. Man ging ins Land, hörte sich die Sorgen und Nöte der Wähler an und richtete darauf seine Politik aus. Pragmatisch, sozialistisch Gut, so könnte man das Wirken der Partei betrachten, und Marijnissen klingt denn auch nicht wie ein intellektueller Schwafellinker, sondern wie ein intelligenter, aufgeweckter, humorvoller Politiker mit großem Verständnis für die Wirklichkeit. Die SP ist zwar links von der PVDA anzusiedeln, sie vertritt auch durchaus linke Idealpositionen, will aber nicht das Land mit Revolution überziehen. Auch das Königshaus darf inzwischen gern bleiben, denn die Wähler wollen es so, auch die Wähler der SP. Der Blogeintrag von Falk Madeja ist hier gutes Anschauungsmaterial. Die SP liegt bei den derzeitigen Umfragen durchaus bei 14 Prozent, und das wäre wieder ein gewaltiges Plus. Es könnte sogar sein, dass sie in der nächsten Regierung sitzt, denn sowohl PVDA als auch CDA könnten sich vorstellen, mit dieser Partei zu regieren, also ganz anders als in Deutschland mit der Linkspartei.
Zwei Gruppierungen gehören seit den frühen neunziger Jahren noch dazu, die überbleibsel der Versäulung sind. Die Christenunion, CU, und die Reformierte Partei, SGP, die eine strengreligiös-Calvinistische Partei ist. Die SGP ist so streng religiös, dass sie erst seit einigen Monaten Frauen in ihren Reihen zulässt. Im Augenblick sieht es so aus, dass beide Parteien einen zuwachs an Wählerstimmen erwarten dürfen. Warum das so ist, kann ich mir nicht erklären, es sei denn mit der allgemeinen Zunahme an rechtem und konservativem Gedankengut. André Rouvoet, der Fraktionschef der Christenunion, ist außerdem ein aufmerksamer und schlagkräftiger Politiker.
Neben diesen alteingesessenen Parteien strömen eine Menge Gruppierungen vom rechten Rand her ins Parlament, oder haben es zumindest vor. Da wäre die Fortuyn-Partei, die bislang LPF, Liste Pim Fortuyn, hieß. Sie war 2002, neun Tage nach der Ermordung Fortuyns, als zweitstärkste Partei ins Parlament eingezogen, allerdings acht Monate später auf ein drittel der Stimmen zusammengeschrumpft. Beobachter rechnen der rechtspopulistischen Partei Kaum noch Chancen aus, ins Parlament zurückzukehren. Und das, obwohl es in den Niederlanden keine Sperrklausel gibt.
Anders sieht es mit den drei anderen Rechtsparteien aus: Die Partei für Freiheit des ehemaligen VVD-Abgeordneten Geerd Wilders, die Partei für die Niederlande des ehemaligen LPF-Abgeordneten Hilbrand Nawijn und die Partei eén nl, 1 nl, von Marco Pastors, einem Stadtrat aus Rotterdam, haben durchaus Chancen ins Parlament zu kommen. Der CDA und die VVD könnten mit diesen Parteien gemeinsam eine Mitte-Rechts-Regierung bilden, vielleicht noch unter Beteiligung der christlichen Splitterparteien. Die drei rechten Parteien wollen eine absolut scharfe Ausländerpolitik und wissen sich in diesem Punkt mit VVD-Ministerin Verdonk einig. Die Unterschiede zwischen ihnen sind nur sehr marginal.
Der rechte Rand erhält immer mehr Zulauf auch in den Niederlanden. Vor einem halben Jahr schien es noch so, als könnten PVDA, GroenLinks und SP eine mitte-links-Regierung bilden, doch seither hat die Zustimmung für die linken Parteien in den Umfragen immer mehr abgenommen, während die Rechten kräftig zulegten.
CDA und VVD haben gesagt, dass sie nur allein die Regierung stellen wollen. Vermutlich sieht das nach dem Wahlabend wieder anders aus. Dort werden sie versuchen, die Macht zu erhalten.
Auch eine große Koalition scheint möglich in den Haag. CDA und PVDA müssten notfalls zusammengehen, um überhaupt eine Mehrheit zu erreichen. Groß wäre diese Koalition im Gegensatz zu Deutschland nur relativ. Rund 60 Prozent der Wähler und Sitze hätte diese Koalition, eine wirkungsvolle Opposition im Parlament wäre nicht unmöglich geworden.
Wir werden abwarten müssen, die Wahlen finden am 22. November statt. Bis dahin kann sich auch in den Umfragen, deren Verlässlichkeit ja keineswegs erwiesen ist, noch viel tun.
Copyright 2006, Jens Bertrams.
wie wichtig sind diese ganzen kleinen Parteien denn in der öffentlichen Wahrnehmung? Liest man nur am Wahltag auf dem Stimmzettel von ihnen oder werden sie auch ansonsten mal in der Zeitung erwähnt?
Denn auf dem Papier haben wir hier in Deutschland ja auch ein paar mehr Parteien. Nur kennt sie niemand oder nimmt sie zumindest nicht ernst…
Ein bisschen mehr Dialog und Bewegung könnte uns in der deutschen Parteienlandschaft vielleicht wirklich gut tun. Wobei sich PDS und WASG ja schon zusammen bewegt haben…
Die Parteien, die ich genannt habe, sind ja alle im Parlament. Sie kennt man, und die drei neuen, die haben große Aussicht, ins Parlament zu kommen. Man kennt sie, man nimmt sie ernst, sie sind teilweise bei Regierungsbildungsverhandlungen beteiligt. Es ist ein pragmatischer Umgang miteinander normal dort, rein ideologisches Ausgrenzen gibt es selten. Daran muss man sich gewöhnen.
Von den Parteien, die größtenteils keine kennt, habe ich erst gar nicht gesprochen. Selbst bei denen, die nicht ins Parlament kommen, kennt man einige, wie die Partei für die Tiere oder die Partei für Nächstenliebe, Freiheit und Unterschiedlichkeit, PNVD, die man auch die Pädopartei nennt. Ihr Hauptanliegen ist nämlich Sex zwischen Kindern und Ewachsenen ab 12 Jahren zu legalisieren und auch auch die öffentliche Nacktheit. Da hat man tatsächlich versucht, sie zu verbieten. Aber sie nimmt nicht an den Wahlen teil, weil sie die Unterstützung der notwendigen Stimmen zur Anmeldung nicht erhalten hat.
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