Wie ich die niederländische Politik kennenlernte – ein persönlicher und meistens unpolitischer Bericht

Noch einmal schlafen, dann finden in den Niederlanden Parlamentswahlen statt. Eigentlich müsste mich das ja nicht betreffen, aber das tut es doch, weil ich mich den Niederlanden sehr verbunden fühle. Wie ich ausgerechnet dazu kam, mich für die Politik dieses Landes zu interessieren, will ich kurz erzählen.

Es gibt zwei Tage im Jahr, da habe ich einen Termin, den die anderen Deutschen kaum nachvollziehen können. Der eine Tag ist der dritte Dienstag im September. Es ist der Tag, an dem die niederländische Königin Beatrix in der zweiten Kammer, dem niederländischen Parlament, die Vorhaben der Regierung für das nächste Jahr kurz umreißt, bevor es meistens eine Woche später zur eigentlichen Haushaltsdebatte kommt. Und es ist der erste Weihnachtstag, an dem Mittags Königin Beatrix ihre Weihnachtsansprache hält. Ist der Typ bescheuert, werden mich jetzt vielleicht manche Leute fragen: Ist der ein Royalist? Die Frage will ich hier nicht beantworten, denn sie verdient einen längeren Artikel, und ich nehme mir das mal für einen Tag vor, wo ich sehr viel Zeit habe. Aber ich bin einer, der sich stark für die niederländische Politik interessiert und viele Dinge dort gefunden hat, die er sich auch für die Deutsche Politik wünschen würde. Und das kam so:

Am 4. April 1982 kaufte meine Familie auf dem niederländischen Campingplatz Heelderpeel ein Zelthaus für 1250 Mark. Es war ein kleines Häuschen, das aus einer Stahlkonstruktion und einer Zeltplane darüber bestand, innen verputzt, und ziemlich klein. Trotzdem haben wir uns dort schnell eingerichtet und es nach und nach zu einem recht großen Holzhaus ausgebaut. Am 31. Dezember 2006 müssen wir es leider aufgeben, für meine Liebste Bianca und mich ist es ohne die Unterstützung meiner Familie, die sich gewissermaßen in Luft aufgelöst hat, nicht zu halten. Dort auf diesem Campingplatz schlossen wir schnell Freundschaft mit unseren Nachbarn. Insbesondere mit Charles, einem damals knapp 60jährigen Niederländer, der in seiner Kindheit in den zwanziger Jahren in Deutschland gelebt hat. Er hieß bei uns der „Zaunkönig“, weil er im Sommer, wenn wir auf unserer Terrasse frühstückten, zu uns an den Zaun kam, sich darauf stützte und mit uns zu reden anfing. Oft saßen wir Stunden da, und eigentlich wollte er uns nur einen guten Morgen wünschen, aber er blieb stehen und quatschte sich mit uns fest. Bis nach einer langen Zeit seine energische Frau Maria kam und ihn abholte, oder sich gleich dazu setzte, um ebenfalls mit uns zu plaudern. Charles war der erste, der mir etwas über die niederländische Politik erzählte. Ich war damals 13 und sehr interessiert, in Deutschland kannte ich mich einigermaßen aus, ich begann gerade, das Grundgesetz zu lesen und es auf eine gewisse Weise zu studieren. Nun war es aber nicht so, dass Charles mir sozusagen die inneren Zusammenhänge der Politik in Holland beibrachte. Unsere Gespräche hängten sich daran auf, dass ich wusste, wer der Ministerpräsident der Niederlande war, Ein Herr namens Van Agt, und dass er daraufhin ein Wortspiel betrieb: Van acht bis neun, sagte er, weil der Name Agt wie Acht ausgesprochen wird. Ich fragte ihn, wie das niederländische Parlament gewählt wird, und er sagte mir: „Nach dem Verhältniswahlrecht“. Wir unterhielten uns über den komplizierten Modus in Deutschland, das sogenannte personalisierte Verhältniswahlrecht, und das war es auch schon. Aber mein Interesse war geweckt. Nicht so sehr, weil ich an Debatten über die Politik der Niederlande interessiert war, sondern ich wollte einfach Zusammenhänge erfahren. Wissen, das war für mich damals wichtig, nicht beobachten.

1984 begann ich, niederländisches Radio zu hören. Inzwischen hieß der Ministerpräsident Ruud Lubbers, und auch in den Niederlanden gab es einen Streit über die „Cruis Missiles“ der Amerikaner, denn eine Friedensbewegung versuchte auch hier, die Stationierung dieser Raketen zu verhindern. Im Radio hörte ich immer wieder den Namen „Brinkman“. Das war ein Minister, der für das Radio in den Niederlanden zuständig war. Ich fragte Charles nach ihm und Ruud Lubbers, kurz bevor er aus Krankheitsgründen den Campingplatz für immer verließ. „Brinkman und Lubbers gehören dem CDA an“, sagte er. Dem CDA? Klang nach einer christdemokratischen Partei, aber wieso *der* CDA und nicht *die* CDA. Die Antwort ließ einige Jahre auf sich warten. In den Niederlanden werden wie hier in Deutschland immer Abkürzungen für Parteien benutzt, und es sollte bis in die Tage des Internets dauern, bis ich die Parteinamen herausfand. CDA bedeutet übersetzt christlich-demokratischer Appell. Damit wusste ich schon mal, dass es eine christdemokratische Partei gab, und ich nahm naiverweise an, dass das Parteienspektrum ähnlich war wie in Deutschland. Wie groß mein Irrtum hier war, konnte ich nicht ahnen.

Nach und nach hörte ich auch neben den Musik- und Unterhaltungssendungen, die mir damals so gut gefielen, hin und wieder eine Nachrichtensendung in niederländischer Sprache. Weil ich die Sprache immer besser verstand, kriegte ich auch nach und nach immer mehr von den Inhalten mit. Ich hörte zuerst internationale Berichte und verglich sie mit Berichten in deutschen Sendern. Dann erst, als mein Vokabelschatz groß genug war, befasste ich mich auch mit niederländischen Themen, aber vor allem, um die Sprache zu lernen. Was gingen mich innerniederländische Angelegenheiten an, ich lebte ja nur als Gast dort. Allerdings wollte ich gern mal eine niederländische Verfassung lesen. Die Lektüre des Grundgesetzes und das Nachdenken darüber hatten mich auf den Geschmack gebracht. Aber keiner unserer niederländischen Freunde lief mit einem Grundgesetz unterm Arm herum, und kaum einer interessierte sich für Politik, nachdem Charles gegangen und wenige Jahre später gestorben war. Wir vermissten unseren Zaunkönig, er hinterließ eine Lücke in unserem Freundeskreis.

Als ich 1984 nach Marburg gegangen war, kam ich nur noch selten in die Niederlande, und ich wünschte mir sehr, ich könnte Hilversum 3 hören, den Unterhaltungssender im öffentlich-rechtlichen niederländischen Rundfunk. Dort interessierten mich vor allem Radio Veronica und Tros. In den Niederlanden nämlich senden mehrere Sendeanstalten über ein und dasselbe Sendernetz. Es sind gesellschaftliche Gruppen, die die Sendeanstalten aufgebaut haben, und es gibt im öffentlich-rechtlichen Rundfunksystem fünf Kanäle über die die Sendungen ausgestrahlt werden. Man muss sich also die Sendezeit teilen. Ich wollte jedenfalls meinen Unterhaltungssender hören, und ich hatte pech. Der einzige Kanal, der auf Mittelwelle in Marburg schlecht zu empfangen war, war Hilversum 1, bzw Radio 1 ab September 1985. Das war der Nachrichten- und Aktualitätensender. Besser als gar nichts, dachte ich damals, und hörte hin und wieder zu. Aber es war kaum etwas zu verstehen.

Zufällig hörte ich auch am 14.09.1989 zu, und da bemerkte ich auf einmal, dass es um Wahlergebnisse ging. Es war ein Mittwoch, das konnte ja eigentlich nicht sein. Oder wurde in den Niederlanden nicht am Sonntag gewählt? Ich blieb vor dem Radio sitzen und schrieb mir die Ergebnisse mit. Das erste, was mir auffiel, war die Tatsache, dass bei den Wahlergebnissen und Hochrechnungen fast nie die Prozentzahlen der Parteien genannt wurden, sondern immer die Sitzanzahl im Parlament. Das war offenbar das Einzige, das die Leute interessierte. Das zweite, das ich bemerkte, war die Vielzahl von Parteien, und das offenkundige Fehlen einer 5-Prozent-Klausel, wie wir sie in Deutschland kennen. Selbst die größten Parteien, stellte ich mit Verblüffung fest, kamen über 35 Prozent kaum hinaus. Ich blieb dabei und schrieb mir die Namen der Parteien auf, genauer gesagt, ihre Abkürzungen. Ich wollte künftig genauer auf diese Dinge im Radio achten, um zu verstehen, welche Parteien gewonnen hatten. Ich hätte mir auch gern mal eine Debatte im Parlament angehört, aber die wurden nicht im Radio übertragen. Ganz im Gegensatz zu Bundestagsdebatten in Deutschland. Das war aber die Zeit, in der ich mich schon intensiv für politische Systeme anderer Länder interessierte, und ich versuchte wiedereinmal, ein Exemplar der niederländischen Verfassung, die man übrigens auch Grundgesetz nennt, in die Hand zu bekommen. Wieder vergeblich. Das Problem war ja, dass ich dieses Dokument in Punktschrift brauchte, und immer noch hoffte ich auf eine deutsche Übersetzung.

Ich nahm mir vor, und setzte dies auch in die Tat um, öfter abends um 23 Uhr die letzte Sendung des niederländischen Radios, „Met het Oog op morgen“ zu hören, in der die politischen Ereignisse des Tages noch einmal beschrieben und analysiert wurden. Außerdem wurde ich Stammhörer des „Radio 1 Journaal“, der drei mal täglich ausgestrahlten aktuellen Politiksendung des Rundfunks.

So kam es, dass ich 1994, obwohl ich wieder in Marburg war, die Wahlen etwas genauer verfolgen konnte. Inzwischen wusste ich, dass der CDA eine konservative Volkspartei ist, die aber in vielen Punkten nicht rechts, sondern in der Mitte stand. Die PVDA, die „Partei der Arbeit“ ist die niederländische Sozialdemokratische Partei, und es gibt die VVD, was wohl so eine Art FDP war, dachte ich mir. Den Parteinamen hatte ich auch 1994 noch nicht entschlüsselt. Heute weiß ich natürlich, dass die rechtsliberale VVD „Volkspartei für Freiheit und Demokratie“ heißt. Dann gab es da noch die Partei D66, die ich überhaupt nicht einschätzen konnte. Ich weiß nicht mehr, ob es das Radio war, oder ob es ein Freund von uns war, der mir einmal sagte, es handele sich dabei um eine sozialliberale Partei, oder linksliberal. Ich fragte mich, warum die Niederländer so ein ausdifferenziertes Parteiensystem haben, das machte doch, nach allem, was ich in der Schule gelernt hatte, das Regieren praktisch unmöglich. Die Regierungsbildungsverhandlungen nach der Wahl schienen mir recht zu geben. Es dauerte mehrere Monate, bis eine Regierung zustande kam. Nicht wie in Deutschland 30 Tage. Damals konnte ich noch nicht wissen, dass es einmal ein Jahr 2005 geben würde, wo man auch in Deutschland 65 Tage warten musste. Drei Monate dauerte es 1994, bis Wim Kok von den Sozialdemokraten ein Kabinett mit den beiden liberalen Parteien, D66 und VVD gründete. Dem wurde keine lange Lebensdauer vorausgesagt, weil die Positionen so unterschiedlich waren. Man sagte oft, dass nur die Königin schuld sei, sie habe von Anfang an eine solche Lösung favorisiert, und an ihren Auftrag, eine bestimmte Regierung zu bilden, müsse sich der Informateur halten. Bitte wer? So fragte ich mich. Was bitte ist ein Informateur? Vor einem Jahr habe ich es in meinem Blogartikel Die Elefanten im Kindergarten – Ein Lernstück über die deutsche „Formation“ geschrieben:

„Wenn die Wahl zur zweiten Kammer, dem niederländischen Parlament, erfolgt ist, trifft sich die Königin mit ihren engsten Beratern und fragt sie nach ihrer
Meinung. Auch die Spitzenkandidaten der einzelnen Parteien, die „Lijsttrekker“, geben ihre Einschätzung bekannt. Daraufhin benennt die Königin einen sogenannten Informateur, oder auch zwei Informateure. Deren Aufgabe ist das Ausloten einer ganz bestimmten Koalitionsmöglichkeit. Dieser Informateur, der in der Regel nicht der amtierende Premierminister oder der Parteivorsitzende der großen Parteien ist, sondern ein integrer Politiker, verhandelt neutral mit den entsprechenden Verhandlungsführern der Parteien. Die Parteivorsitzenden haben in den Niederlanden sowieso nicht so viel zu sagen, im Parlament geht es um die Fraktionschefs, die das große Wort führen. Und die sind auf keinen Fall Regierungsmitglieder, das ist unvereinbar. nach ein paar Tagen steht meistens fest, ob es überhaupt eine Möglichkeit zu der von der Königin angestrebten Koalition gibt, und der Informateur erstattet seinen bericht. Dann erhält er einen neuen Auftrag,
in der Regel führt er oder ein anderer dann die Verhandlungen über ein Regierungsprogramm. Auch diese Person ist ein Informateur. Wenn sich dabei herausstellt, dass diese Koalition nicht funktioniert, gibt er seinen Auftrag zurück, und in der Regel wird dann ein anderer Informateur mit dem Ausloten einer anderen Koalitionsmöglichkeit beauftragt. Das kann schon mal eine Weile dauern, es kann aber auch ganz schnell gehen. Zwar liegt das große politische Leben während der „Formatieperiode“ ziemlich brach, aber die Alltagsgeschäfte gehen weiter. Und kaum jemand regt sich drüber auf, es ist ganz normal, das Abendland geht nicht unter. Immerhin sitzen 10 parteien in der zweiten Kammer, die kleinsten mit knapp einem Prozent der Stimmen, da dauert das schon mal ein wenig. Wenn dann das Regierungsprogramm im großen und ganzen steht, benennt die Königin den sogenannten Formateur. Er ist es, der die Regierung formt, sich also um die personelle Zusammensetzung kümmert, die Antrittsrede schreibt und dann in der regel auch Ministerpräsident wird. Die Ernennung des Ministerpräsidenten findet dann bei der Königin statt, wenn klar ist, dass der neue Regierungschef das Vertrauen des Parlaments besitzt. Der Ministerpräsident wird aber nicht vom Parlament gewählt, das ist ein Unterschied zu Deutschland, der ganz klar ins auge sticht. Die Niederländer gehen diese Regierungsbildung immer mit sehr viel Ruhe und Gelassenheit an. Der Streit über die Führungsrolle in einer künftigen Regierung wird durch Gewohnheitsrecht entschieden. Der Spitzenkandidat der größten an der Regierung beteiligten Partei wird Ministerpräsident, und die Kammerfraktion dieser Partei muss einen Andern zum Fraktionschef benennen.“

Diese Konstruktion des Informateurs war es, die mir zeigte, das in unterschiedlichen Ländern die unterschiedlichsten Rechtssysteme und politischen Vorschriften herrschen. Wir kämen in Deutschland nie auf die Idee, auf diese Weise unsere Regierung bilden zu lassen. Wir würden das als nicht tragfähig und langwierig empfinden. Das faszinierte mich, und ich versuchte, noch mehr über das System herauszufinden.

Am 27.03.1996 erhielt ich meinen Internetanschluss, und so schnell wie möglich wurde die Seite der niederländischen Rundfunkstiftung NOS meine Hauptseite, auf der ich mich nach den neuesten Nachrichten umsah. Von dort aus versuchte ich, Neuigkeiten über das politische Leben in den Niederlanden zu erhalten. Zum Beispiel fragte ich mich, warum die Regierung unter Wim Kok immer als „pars“ bezeichnet wurde. Ich wusste nicht, was das bedeutete, bis ich irgendwo im Internet auf einer deutschen Seite über die Niederlande, von denen es viel zu wenige gibt, mal den Begriff „Lila Kabinett“ las. Die Parteifarben der drei beteiligten Parteien ergaben zusammen Lila. Wieder war ich schlauer.

Die Wahlen 1998 verfolgte ich dann schon mit großer Aufmerksamkeit übers Internet, doch immer noch wartete ich auf die Möglichkeit, eine Parlamentsdebatte zu hören. Internet bedeutete damals für mich noch, mit einem DOS-Rechner mit Modem ins Netz zu gehen, mit einer Geschwindigkeit von 9600 Bit pro Sekunde. Wenn ich hier etwas radiomäßig über die Niederlande hören wollte, dann tat ich das über den Weltrundfunk der Niederlande auf Kurzwelle. Auch, als im Jahre 2002 wieder Wahlen anstanden.

Im Frühjahr war ich dort gewesen und hatte verfolgt, wie ein scheinbar rechter Newcomer namens Pim fortuyn in Rotterdam die Gemeinderatswahlen gewonnen und dann eine eigene Partei gegründet hatte, mit der er an den parlamentswahlen teilnehmen wollte. Wim Kok würde nicht wieder antreten, und wegen des Reports über das Massaker in Srebrenica 1995 trat das Kabinett vier Wochen vor den Wahlen noch zurück. Fortuyn wurden Chancen eingeräumt, der nächste niederländische Ministerpräsident zu werden. Er versammelte mit populistischen Parolen und persönlichem Charme die Unzufriedenen um sich. Ich war gespannt, wie dieser newcomer abschneiden würde, und warum er so viele Stimmen bekam. So hörte ich eben hin und wieder auch von Marburg aus Radio, und so auch am Morgen des 7. Mai 2002, als ich ausnahmsweise allein in unserer Wohnung war. Geschockt hörte ich von der Ermordung Fortuyns 9 Tage vor den Wahlen durch einen Umweltaktivisten. Ich konnte nicht glauben, dass es in den Niederlanden, wo alles nach meiner bisherigen Erfahrung durch Konsensbildung gelöst wurde,einen solchen Mord geben sollte. Die Wahlen wurden durchgeführt, was ich gut fand, und ich ging zu meinem Freund Mario, um an seinem Internetrechner den Wahltag zu verfolgen. Der hatte nämlich schon ein 56k-Modem und Windows 98, und stotternd hörten wir Radio 1. Die Partei Fortuyns errang aus dem Stand heraus 26 Sitze im Parlament und wurde zur Regierungspartei. Innerhalb von knapp 2 Monaten bildeten CDA, VVD und LPF eine neue Regierung. Ich verfolgte das mit Sorge, weil ich dachte, die Rechten in der Regierung tun niemandem gut. Immer noch hatte ich von den anderen Parteien nicht viel Ahnung, aber die Hauptakteure waren mir inzwischen wohl bekannt, gerade über das Internet. Ich konnte verfolgen, wie instabil die LPF ohne Pim Fortuyn war und blieb so gut es ging am Ball, weil ich wissen wollte, wie sich die Krise entwickeln würde.

Am 15. September 2002 übernahm ich den Rechner, mit dem ich vier Monate zuvor die Parlamentswahlen verfolgt hatte, und ich hörte zwei Tage später zum ersten mal die Thronrede der Königin im niederländischen Rundfunk via Internet. Ich hatte schon oft die Weihnachtsansprache der Königin gehört, aber das ist ja etwas unpolitisches. Wenn die Thronrede stattfand, war ich eigentlich nie in Holland, darum hatte ich sie noch nie gehört, nur hin und wieder einmal Ausschnitte in den letzten Jahren. Lange Jahre hatte ich mich gefragt, was der Begriff „Prinsjesdag“ eigentlich bedeutete, bis mir klar wurde, dass mit dem „Prinzentag“ eben dieser dritte Dienstag im September gemeint war, an dem die Königin immer die Regierungserklärung für das kommende Jahr verliest. Mit Internet ging vieles einfacher. Binnen der nächsten Wochen fand ich eine Möglichkeit, auch die Debatten des niederländischen Parlaments über Internet zu verfolgen. Aber mit meiner Internetverbindung lief das ziemlich stotternd und machte keinen Spaß. Also besorgte ich mir DSL.

Am 15.10.2002 hatte ich es geschafft. An dem Tag, an dem Prinz Claus beigesetzt wurde, bekam ich meinen DSL-Anschluss. Ich konnte ein paar Minuten der Trauerfeierlichkeiten verfolgen, und dann bekam ich mit, wie das Kabinett mit der LPF zerbrach, nach weniger als drei Monaten. Schon wieder musste es Neuwahlen geben.

Endlich konnte ich die Neuwahlen und den Wahlkampf richtig gut mitverfolgen. So war es mir auch möglich, mich über die anderen Parteien und ihre Programme zu informieren, und mir die Kammerdebatten anzuhören. Die waren es schließlich, die mich fesselten. Dort gab es weniger Schaufensterreden und mehr wirkliche Diskussionen als ich es aus dem Bundestag kannte. Fragestunden und intensive Erörterungen waren dort an der Tagesordnung. Manchmal setzte ich mich einige Stunden hin und hörte zu, und so lernte ich die politischen akteure immer besser kennen.

Irgendwann im November 2002 hörte ich mal wieder Nachrichten. Dort hieß es: „Ayaan Hirsi Ali ist heute in die Niederlande zurückgekehrt. Sie wurde bei ihrer Ankunft von einem äußerst umfangreichen Presseaufgebot begrüßt. Das Enfant Terrible der niederländischen Politik teilte mit, dass die VVD ihr einen sicheren Listenplatz für die Kammerwahlen am 22. Januar kommenden Jahres angeboten habe. Sie wolle sich für die Rechte muslimischer Frauen und die Abschaffung der religiösen Schulen in den Niederlanden einsetzen. Frau Hirsi Ali hatte sich während der letzten Wochen wegen Drohungen aus dem islamischen Umfeld verstecken müssen, weil sie den Islam öffentlich als eine rückständige Religion gebrandmarkt hatte.“ Ich kannte den Namen nicht und vergaß ihn wieder, kann mich aber heute an die Nachrichtensendung ziemlich gut erinnern. Hin und wieder fiel der Name in den Nachrichten, mehr aber auch nicht.

Bis zum 2. November 2004…

Copyright 2006, Jens Bertrams.


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Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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2 Antworten zu Wie ich die niederländische Politik kennenlernte – ein persönlicher und meistens unpolitischer Bericht

  1. Mike sagt:

    Interessanter, leidenschaftlicher Artikel.
    Nur eine Anmerkung:
    Lijsttrekker = integre Persönlichkeit? wohl eher nicht, besser (finde ich):
    Lijsttrekker = Strippenzieher im Hintergrund

    Beste Grüße

  2. Hi Mike: Ich musste erst mal nachlesen, auf welche Stelle sich deine Anmerkung bezieht. Wenn du noch mal nachliest, wirst du feststellen, dass ich nicht die Lijsttrekker als integre Politiker bezeichnet habe. Ich habe nur gesagt, dass die Königin als Informateur meist *nicht* die Lijsttrekker, sondern einen integren Politiker auswählt. Besser vielleicht, einen von vielen geachteten Politiker, vielleicht einen Ex-Ministerpräsidenten und Staatsrat wie Lubbers. Wie Integer die Leute tatsächlich sind, war nicht das Thema, denn natürlich stimme ich deiner Meinung hier voll zu.

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