Viele scheint es nicht interessiert zu haben, was „Die Zeit“ und der MDR da am 17.04.2009 über die 20 Jahre zurückliegende Maueröffnung berichteten. Ich hielt es für eine Sensation und habe am 17.04.2009 für ohrfunk.de dazu einen Kommentar geschrieben und in der Sendung „17-20, der Soundtrack zum Tag“ veröffentlicht.
Die Maueröffnung war kein Zufall, wie bislang immer angenommen wurde. Mit dieser sensationellen Mitteilung überraschten gestern die Zeit und der MDR die interessierte Öffentlichkeit. Der das sagt, ist ein Mann, dessen Integrität nicht in Zweifel steht: Riccardo Ehrmann, am 9. November 1989 Korrespondent der italienischen Nachrichtenagentur Ansa in Ost-Berlin. Er muss es schließlich wissen, denn er war es, der Günter Schabowski an jenem denkwürdigen Donnerstagabend im Pressezentrum fragte, ob das Reisegesetz, das die DDR-Regierung als Entwurf veröffentlicht hatte, kein Fehler gewesen sei. Damit löste er jene Antwort von Schabowski aus, die schließlich die Mauer öffnete. Bislang nahm man allgemein an, Ehrmann sei zufällig auf das Thema zu sprechen gekommen. Nun erklärt der inzwischen in Madrid lebende Journalist jedoch, er sei rund eine Stunde zuvor von einem hohen SED-Funktionär angerufen und dringend gebeten worden, diese Frage zu stellen. Wenn das stimmt, dann muss es eine Gruppe in der SED gegeben haben, die die Bemühungen der DDR-Regierung um Stabilität und Kontinuität massiv torpedieren wollte und auch torpediert hat.
Seit Monaten nutzten immer mehr Menschen jede Möglichkeit, die DDR zu verlassen. Um den Ausreisestrom einzudämmen hatte man Erich Honecker gestürzt, Egon Krenz sollte den DDR-Bürgern als Gorbatschowanhänger und Reformator verkauft werden. Zu Hunderttausenden drängten die Menschen friedlich auf die Straße und forderten Freiheit in jeder Beziehung. Die DDR-Führung stand vor dem Ende. Mit allen möglichen Tricks sollte der Druck auf die SED entschärft und die Lage in der DDR beruhigt werden. Deshalb veröffentlichte die SED ein hoch bürokratisches Reisegesetz, dass es DDR-Bürgern künftig erleichtern sollte, Privatreisen ins westliche Ausland durchzuführen. Dieses Reisegesetz, das am 6. November als Entwurf im neuen Deutschland veröffentlicht wurde, rief auf den Montagsdemos sofort spontane Gegenwehr hervor. Die Bürger der DDR wollten uneingeschränkte Reisefreiheit. Am 8. und 9. November tagte wiedereinmal das Zentralkomitee der SED, und man beauftragte die Regierung, eine Verordnung zu erlassen, die die sogenannte ständige Ausreise regeln sollte, also das Verlassen der DDR und die Übersiedlung in die BRD. Diese ständige Ausreise fand bislang nämlich über die BRD-Botschaften in verschiedenen Ostblockstaaten statt, und alle waren sich einig, dass dies ein unhaltbarer Zustand war. Zwei Oberste der Stasi und zwei Abteilungsleiter im Innenministerium trafen sich darum am 9. November morgens, um eine entsprechende Verordnung auszuarbeiten. Ihnen wurde schnell klar, dass man nicht die ständige Ausreise über Grenzübergangsstellen der DDR erlauben, Privatreisen aber weiterhin verweigern konnte. Also gingen sie über ihren Auftrag hinaus und schrieben in die Verordnung hinein, dass auch Privatreisen nach dem Ausland künftig einfach und ohne das Vorliegen von Voraussetzungen möglich sein sollten. Das Dokument wurde auf dem Dienstweg den Ministerien vorgelegt und routinemäßig, möglicherweise ohne Durchsicht, abgenickt. Dann ging es ins ZK zur endgültigen Beschlussfassung. Kaum jemand im ZK war sich wohl der Tragweite dieses Beschlusses bewusst, auch hier wurde er einfach angenommen. So kam Günter Schabowski kurz vor seiner Pressekonferenz in den Besitz des Zettels, auf dem die Maueröffnung stand. Allerdings hatte man vergessen, ihm mitzuteilen, dass diese Grenzöffnung erst am Folgetag um 4 Uhr Morgens durch einen Sprecher im Radio bekannt gegeben werden sollte. Bis dahin sollten nämlich die Grenztruppen davon unterrichtet werden, dass sich ihr Auftrag änderte. Schabowski aber verlas die Verordnung, die noch gar nicht freigegeben war, auf Ehrmanns Anfrage hin, der diese Frage ohne den vorhergehenden Anruf möglicherweise gar nicht gestellt hätte. Darum standen schon eine Stunde später hunderte von Menschen am Grenzübergang Bornholmer Straße, um in den Westen zu reisen, und wurden eine ganze Weile lang von den Grenzsoldaten daran gehindert. Die nämlich wussten von gar nichts. Hätten die Menschen nicht ruhig und besonnen abgewartet, und hätten die Grenzer mancherorts nicht aus eigenem Antrieb die Schlagbäume geöffnet, dann hätte es am Abend des 9. November 1989 statt zu einem Freudenfest auch zu einer Katastrophe kommen können. Irgendjemand in den Führungsetagen der SED wollte wohl die Entwicklung beschleunigen, dem Taktieren ein Ende machen, und rief deshalb Riccardo Ehrmann an, der dann Geschichte schrieb.
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Autor: Jens Bertrams