Wer erinnert sich nicht an die Spionageaffäre Guillaume, die Bundeskanzler Willy Brandt Grund zum Rücktritt gab? Ich habe am 24.04.2009 einen Kommentar dazu verfasst, und zwar für ohrfunk.de. Diesen Kommentar habe ich in der Sendung „17-20, der Soundtrack zum Tag“ veröffentlicht.
Am 24.04.1974 wurden der persönliche Referent des Bundeskanzlers Willy Brandt für Parteiangelegenheiten, Günter Guillaume, und seine Frau Christel unter Spionageverdacht für die Hauptverwaltung Aufklärung des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit festgenommen. Damit begann der öffentliche Teil einer Affäre, die – zum Erschrecken beider deutscher Regierungen – den Rücktritt Brandts und die Nachfolge HelmutSchmidts als Bundeskanzler nach sich zog. Ob die immer wieder verschobene und verzögerte Enttarnung Guillaumes wirklich die Ursache für Brandts Rücktritt war, darf heute stark bezweifelt werden. Sicher ist, dass Guillaume sich für Brandt unentbehrlich machte, dass er seine Arbeit, vor allem auf Reisen, hervorragend organisierte, und dass er auch dann noch an halbwegs geheime Unterlagen kam, als es beim Verfassungsschutz bereits handfeste Indizien gegen ihn gab. Weil diese aber nicht gerichtsverwertbar waren – es handelte sich in der Hauptsache um alte, private Funksprüche aus der DDR, die jetzt entschlüsselt werden konnten – musste man lange Zeit Beweise sammeln. Auch bei der Verhaftung Guillaumes gab es solche Beweise nicht, und hätte er sich nicht als Bürger der DDR und Offizier der Nationalen Volksarmee selbst enttarnt, wären die Beweise für eine Verurteilung vermutlich nicht ausreichend gewesen. Die Tatsache allein jedoch, dass die DDR es geschafft hatte, einen Spion in der Nähe Brandts zu platzieren, hätte dessen Rücktritt eigentlich nicht gerechtfertigt. Vielmehr spornte die Affäre die innerparteiliche Opposition an, vor allem Herbert Wehner war unzufrieden, weil Brandt sich mehr mit Außenpolitik als mit den Alltagsfragen der deutsch-deutschen Annäherung befasste. Brandt war Idealist, Wehner knallharter Realpolitiker und Machtmensch. Folgerichtig warf er seinem Partei- und Regierungschef Führungsschwäche vor. Die mangelnde Unterstützung Wehners, der damals Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion war, dürfte ein gewichtiger Grund für den Rücktritt des Kanzlers gewesen sein. Helmut Schmidt, der sich schon lange für den besseren Kanzler hielt, hatte allerdings Skrupel, das Amt auf diese Art zu übernehmen. Für eine Weile versuchte er, Brandt zum Durchhalten zu bewegen. Aber die in den Medien auftauchenden Berichte über Brandts amouröses Privatleben auf Dienstreisen, die möglicherweise von seinen Leibwächtern stammenden Aussagen über seine Alkohol- und Nikotinprobleme, seine Depressionen und seine mangelnde Führungsstärke, all das machte ihn, wie er später einmal sagte, richtig kaputt. 12 Tage lang wusste Brandt nach der Enttarnung Guillaumes nicht, wie es weitergehen sollte. Am 6. Mai 1974 entschloss er sich, die politische Verantwortung zu übernehmen und zurückzutreten. Damit ging die Zeit der Visionen, des Aufbruchs und der Ideale zuende. was bis dahin an groß angelegten Reformen nicht geschafft worden war, wurde auf Eis gelegt. Denn wie Wehner war auch Helmut Schmidt ein sogenannter Realpolitiker. Er gehörte zu den Konservativen in der SPD, für die Wirtschafts- und Finanzpolitik wichtiger war als soziale Gerechtigkeit und Friedenspolitik. Viele von denen, die 1969 nach der Außerparlamentarischen Opposition in der neuen SPD-Regierung ihre große Hoffnung erblickt hatten, wandten sich nun für lange zeit von der Politik ab. Einige gingen zu den Grünen und kehrten Anfang der achtziger Jahre in der Friedensbewegung noch einmal in die Öffentlichkeit zurück. Günter Guillaume wurde in die DDR ausgetauscht, nachdem er sieben Jahre in Westdeutschland im Gefängnis gesessen hatte. Als er von Brandts Rücktritt hörte, soll er entsetzt gewesen sein. Seine Doppelloyalität zur Stasi und zu Willy Brandt gehört bis heute zu den faszinierenden Aspekten der nach ihm benannten Affäre, die heute vor 35 Jahren ihren Anfang nahm.
Copyright © 2009, ohrfunk.de
Autor: Jens Bertrams