Childhood’s End am ersten Advent

Es ist wieder so weit, ich möchte davonlaufen, während überall der Weihnachtsschmuck, die Weihnachtsmusik, der

Weihnachtskaufrausch und der Weihnachtsstress auftauchen und die nächsten Wochen bestimmen werden. Die immer gleichen

Weihnachtsplatten wird man auf den immer gleichen Weihnachtsmärkten hören, die immer gleichen genervten Leute werden

versuchen, auch nur ja niemanden bei den Geschenken zu vergessen. Und von Heute an steht das Radioprogramm, das

Fernsehprogramm, die Kaufhausmusik und einfach alles im Zeichen des nahen Festes. Und ich möchte an einen ruhigen Ort,

vielleicht mit ein wenig Schnee in der heiligen Nacht, einen Tannenbaum mit einer Lichterkette vor dem Haus, die Familie beim

ruhigen und fröhlichen Weihnachtsessen versammelt. Oh nein, ich war nicht immer so ein Weihnachtsmuffel wie heute.

Kein Wunder, denn ich hatte all die Dinge, die ich gerade aufgezählt hatte. Mit meiner Familie wohnte ich in einer kleinen

Stadtrandsiedlung. Am Freitag vor dem ersten Advent kam ich nachmittags aus der Schule. Es war ungefähr halb fünf, und der

Himmel wurde dunkel. Wenn wir mit dem Auto auf unsere kleine Straße einbogen, konnte ich schon den Weihnachtsbaum vor unserem

Haus sehen, in dem mich eine große Lichterkette freundlich und hell begrüßte. In den Tagen darauf tauchten auch vor anderen

Häusern Weihnachtsbäume auf. Unser Weihnachtsbaum war eine Tanne, die in unserem Vorgarten stand und von Jahr zu Jahr größer

wurde, noch heute steht sie vor dem Haus meiner Kindheit, und obwohl niemand mehr dort lebt, der diese Zeit bewusst miterlebt

hat, möchte niemand aus der Familie sie abholzen.

Drinnen in der Wohnung erwartete mich natürlich ein Adventskalender und ein kleinerer Weihnachtsbaum, ebenfalls eine Tanne,

aber mit Wurzel, die nach dem Fest bei uns im Garten hinter dem Haus eingepflanzt wurde. Hin und wieder, längst nicht jeden

Abend, saßen wir bei Kerzenschein in unserer Küche, meine Mutter, meine Schwester, mein Bruder und ich, und dann wurde

gesungen, zwanglos, einfach so, mal mit meinem kleinen Keyboard, mal ohne. Mein Bruder konnte nicht singen, aber manchmal

sang meine Schwester mit ihrer schönen Stimme mit, die sie hätte ausbilden lassen sollen. Manchmal stimmte ich englische

Weihnachtslieder an, die ich im Unterricht gelernt hatte, aber das geschah selten. Mein Vater saß dann im angrenzenden

Wohnzimmer, der Fernseher war leise gedreht, und er hörte zu oder schlief ein wenig.

Weihnachtseinkäufe erstreckten sich über einen langen Zeitraum vor dem Fest, nichts wurde im letzten Moment gekauft, oft

wurde selbst etwas für die Kinder gebastelt, an langen, ruhigen Abenden. Und manchmal fiel auch etwas Schnee, was die

elektrischen Kerzen der Lichterkette in unserer Tanne nicht störte. Und es war still rings umher, gerade wenn der Schnee

fiel, wenn man nur mit großer Aufmerksamkeit die fallenden Flocken hören konnte. Es war eine Stille, die ich heute

schmerzlich vermisse, wenn die Nacht herein bricht. Und in klaren Nächten sah ich den Mond über der Hausecke gegenüber, und

ich wusste: Irgendwann fliege ich da mal hin. Irgendwann, wenn ich groß bin.

Weihnachten war für mich kein Fest des Glaubens. Es war ein Fest der Familie. Sie kamen alle: Aus Leichlingen und Düsseldorf,

aus allen Ecken Solingens kamen sie zu uns. Meine Oma, die in unserem Haus wohnte, sammelte in den besten Zeiten ihre drei

Kinder mit Ehegatten, ihre 6 Enkel, von denen mindestens 2 auch schon wieder Partner hatten, und ihre 2 Urenkel um sich.

Natürlich nicht alle an einem Tag, aber im laufe der drei Weihnachtstage waren sie alle da.

Am heiligen Abend war unsere Wohnküche hell und warm, es roch nach dem Weihnachtsessen, entweder Sauerbraten, oder

Kartoffelsalat, je nachdem, worauf meine Mutter lust hatte. Meine Oma, meine Eltern und meine Geschwister waren in jedem

Falle da. Nachdem meine Schwester geheiratet hatte, war auch mein Schwager dabei, und schon 2 Jahre später auch meine älteste

Nichte, und wieder 2 Jahre später auch meine mittlere Nichte. Später kam dann auch noch die Freundin meines Bruders hinzu.

Wir mussten uns zum Essen auf zwei Tische in zwei Zimmern verteilen, aber das war kein Problem. An Weihnachtsmusik kann ich

mich nur in seltenen Fällen erinnern, man saß zusammen und unterhielt sich, ruhig, entspannt, wie es mir vorkommt, freundlich

und im Reinen mit sich und der Welt. Kerzen standen auf den Tischen, später wurde oft das Licht ausgeschaltet, und der

Adventskalender, seiner Hinterwand beraubt, wurde vor die Kerze gestellt, was interessante Licht- und Schattenspiele

hervorrief. Ich freute mich vor allem auf die Geschenke, die im Wohnzimmer unter dem Weihnachtsbaum auf mich warteten, ich

konnte es kaum abwarten. Ich genoss nicht die anheimelnde Geborgenheit der Familie, oder war mir ihrer nicht bewusst, hielt

sie für selbstverständlich und unvergänglich, zumindest solange ich Kind war. Erst später wird einem der entsetzliche Verlust

klar, den man erleben musste. Aber hätte ich ihn im Voraus erahnen können, wäre mir der Endlichkeit der schönen Zeit gewahr

geworden, hätte sie dann nicht schon im Voraus vieles von ihrer Schönheit verloren? Irgendwann erklang ein Glöckchen, und ich

durfte ins Wohnzimmer kommen und die Geschenke auspacken. Als ich klein war, glaubte ich an das Christkind, das bei seinem

Abmarsch, nachdem es die Geschenke abgelegt hatte, das Glöckchen erklingen ließ. Später machte ich mir keine Gedanken mehr

darüber, eigentlich konnte es nur mein Vater sein, denn das Glöckchen kam aus dem Wohnzimmer, wo nur er saß und unserem

Treiben zuhörte.

Wir lebten in einer Stadtrandsiedlung, am Berghang, der hinab in das Tal der Wupper führte. Weiter den Berg hinauf standen

hinter unserem Haus keine Häuser mehr, nur eine Kuhweide schloss sich an, darüber dann der Sportplatz des „SSC 1895-1898“.

Ich stamme aus einer Arbeiterfamilie, wie eigentlich alle, die dort lebten. Und deshalb waren unsere Häuser nicht mit Komfort

ausgestattet. Warmes Wasser aus dem Wasserhahn gab es bis 2006 nicht, ein WC im Haus ebensowenig, stattdessen ein kleines

gemauertes Steinhäuschen mit Holztüre im Hof und einem Plumpfklo. Eine Dusche lernte ich erst in der Schule kennen, und eine

Badewanne war für mich bis dahin eine große Schüssel, in der man auch Wäsche von der Waschküche hinauf in die Wohnung

transportieren konnte. Aber zu unserer Mietwohnung gehörte, eben weil so viel Platz war, ein Gartengrundstück direkt hinter

unserem Haus. Und als meine Eltern im Jahre 1978 aufgrund ihrer täglich 12-stündigen Arbeit mal ein paar hundert Mark gespart

hatten, es mögen auch tausend Mark gewesen sein, da kauften sie ein Schwimmbecken. Kein beheiztes oder sonstwie komfortables

Stück: Ein einfaches Planschbecken für Kinder, nur diesmal größer und für Erwachsene geeignet. 5 oder 6 meter lang, drei oder

vier Meter breit, 1,20 Meter tief. Wir ließen es zu Beginn des Sommers mit einem Gartenschlauch voll laufen, was über 2 Tage

dauerte. Dann wurde eine kleine Umwälzpumpe eingeschaltet, die auch den Chlorhaushalt steuerte, und das war es. Wenn der

Sommer zuende war, wurde das meiste Wasser hinaus gelassen, aber nicht alles, sonst wäre das Becken bei jedem Windstoß

eingeknickt. Das Wasser verlieh ihm Stabilität. Erst wenn der Sommer wieder nahte, wurde auch der Restt des Wassers mit

Eimern hinausgeschöpft und neues hineingelassen, nachdem das Becken gründlich gereinigt war. Ich ging im Sommer gern dort

schwimmen, und der Winter begann für mich, wenn die Leiter nicht mehr am Becken stand und es mit einer Plane verdeckt war.

1982 wurde der älteste Sohn meines Bruders und seiner Freundin und späteren Frau geboren. Wenige Monate später kauften wir

für sehr wenig Geld ein kleines Ferienhäuschen auf einem Campingplatz in Holland. Wir verbrachten viel Zeit dort, aber

natürlich nicht Weihnachten, was ein Fest der Familie blieb. Zumal wir nicht wussten, wie lange meine Oma sie noch alle um

sich würde versammeln können.

Als ich im Sommer 1984 nach Marburg aufs Gymnasium ging, änderte sich vieles. Ich kam von nun an nicht mehr jedes Wochenende,

sondern nur noch in den Ferien nach hause. Und alle paar Wochen gab es mal ein freies Wochenende. Gott sei dank war der erste

Advent auch darunter, ich würde wieder die frisch aufleuchtende Tanne sehen und die Ruhe der Adventsabende genießen können.

Der Sommer war so schön, dass ich bis zum letzten Tag vor meiner Abreise die Vorzüge unseres Schwimmbeckens genoss. Auch im

Oktober war das Wetter noch so gut, dass der Bruder meiner Schwägerin zu uns kam und noch Schwimmen ging. Erst danach wurde

viel Wasser abgelassen, aber es regnete während des Novembers in Strömen, und weil die letzten Schwimmer keine Plane über das

Becken gelegt hatten, war es am Samstag vor dem ersten Advent, dem 1. Dezember 1984, ziemlich voll. Und während meine Eltern

und ich das freie Wochenende in Holland verbrachten, war die Familie meiner Schwägerin bei uns zu Besuch. Ihr jüngster

Bruder, gerade 6 Jahre alt, spielte draußen mit ihrem und meines Bruders Ältestem, fast drei Jahre alt. Sie bauten auf dem

Spielplatz unserer Siedlung Sandburgen, und einer der Jungen kam auf die Idee, Wasser zu holen. Der Sohn meines Bruders ging

zu uns ans Schwimmbecken, kletterte auf die leiter, holte zweimal Wasser und kehrte vom dritten Ausflug nicht zum Spielplatz

zurück. Der kleine Bruder meiner Schwägerin ging ins Haus, erzählte meinem Bruder davon, und der brauchte nur aus dem Fenster

zu schauen, um seinen Sohn auf dem Wasser liegen zu sehen. Als er den kleinen aus dem Becken holte, lebte er noch, aber er

starb nach wenigen Minuten.

Am Nachmittag des ersten Advent 1984, dem 2. Dezember, kamen wir aus Holland zurück. Für mich war es nur eine kurze

Zwischenstation auf dem Weg zurück nach Marburg. Wir bogen in unsere Straße ein, und keine Tanne leuchtete am Platz vor

unserem Haus. Als wir meine Schwester auf der Treppe stehen sahen, wussten wir, dass etwas Schreckliches geschehen sein

musste.

Natürlich wurde das Schwimmbecken sofort abgerissen, natürlich zierten in jenem Jahr keine Lichter den Baum vor unserer

Haustür. Und natürlich konnte Weihnachten kein fröhliches Fest sein. Es war eine traurige Zusammenkunft. Und das Fest ist für

mich nie wieder dasselbe gewesen wie zuvor.

Säße ich heute noch mal am heiligen Abend an jenem Tisch in unserer Wohnküche, wäre ich beinahe allein. Meine Oma, meine

Eltern und mein Bruder sind Tot, meine Schwester, mein Schwager und die beiden älteren Nichten reden kein Wort mehr mit mir.

Nur meine Schwägerin wäre da, und die anderen, später geborenen Kinder meines Bruders, und die eine, später geborene Tochter

meiner Schwester. Hin und wieder hören wir voneinander, ein paar mal im Jahr gehen Grüße hin und her. Doch der innere

Zusammenhalt wurde an diesem Samstag vor dem ersten Advent 1984 zerstört, der innere Frieden dem Fest und seiner

Vorbereitungszeit geraubt. Später hat es wieder Weihnachtszusammenkünfte gegeben, kurz, halbherzig, hektisch, und nur dazu

gedacht, den Kindern ihre Geschenke zukommen zu lassen. Weihnachten wurde zum Greuel, durch das man irgendwie durch musste.

Als wenige Jahre später kurz hintereinander meine Oma, mein Vater und mein Bruder starben, sind meine Mutter und ich oft über

die Feiertage in Holland geblieben. Der Rest der Familie konnte das nicht verstehen, aber wir hatten wenigstens eines dort,

was uns in solchen Wintertagen wichtig war: Ruhe und Frieden, und Zeit für innere Einkehr.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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4 Antworten zu Childhood’s End am ersten Advent

  1. Pingback: Twitter Trackbacks for Mein Wa(h)renhaus » Childhood’s End am ersten Advent [jens-bertrams.de] on Topsy.com

  2. VolkerK sagt:

    Sehr bewegende Geschichte.
    Der Vater einer guten Freundin ist vor viele Jahren an Weiberfastnacht gestorben und wurde makabererweise Aschermittwoch beerdigt. Karneval kann sie hier im Rheinland verständlicherweise nicht ertragen.
    Es sind Symbole, die uns erinnern. Und wäre der Tod meines Vaters kurz vor Weihnachten nicht eine Erlösung für ihn gewesen, wäre es bei mir sicher nicht viel anders.
    V.

  3. Sammelmappe sagt:

    Manche Wolken aus der Vergangenheit ziehen immer mit. Wohin wir auch gehen.

  4. Das Nest sagt:

    Eigentlich kenne ich diese Geschichte schon sehr lang, aber sie erfüllt mich immer aufs Neue mit Traurigkeit und Hilflosigkeit. so ist das mit den Dingen, die man auch mit noch so viel Liebe nicht mehr zurückgeben kann. Bei so etwas sind wir machtlos, können nur daneben stehen. ich wünsche uns das schönste weihnachten, das uns möglich ist. ich habe diese Zeit immer sehr geliebt, und sie ist für mich (vor allem die Adventszeit noch mehr als die Weihnachtszeit) mit den allerschönsten Erinnerungen an meine Kindheit verbunden, die ansonsten nicht sehr einfach war. Also werden wir unseren Schmerz zusammentun, zusammen zur Seite legen und das beste aus dieser Zeit machen. Das wünsche ich uns. t

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