Ein offener Brief an Israels Ministerpräsidenten Netanjahu

Den folgenden Kommentar in Form eines offenen Briefes habe ich am 02.06.10 für ohrfunk.de geschrieben und dort veröffentlicht.Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Netanjahu,

ich bin ein Deutscher. Als Deutscher erkenne ich nicht nur das Existenzrecht des Staates Israel an, sondern ich glaube sogar, dass die Welt eine Verpflichtung hat, Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Identität eine gesicherte Heimstatt zu geben. Und ich glaube auch, dass Israel dafür keine besondere Dankbarkeit zeigen muss. Allein dies Eine denke ich, ist von Nöten, die Einhaltung des internationalen Rechts und die Menschlichkeit, ohne die Frieden und Versöhnung nicht möglich ist. Ich spreche von einer Menschlichkeit, wie sie von engagierten Mitmenschen ausgeübt wird, um andere zu schützen, vor Willkür, Verschleppung, Deportation, Erniedrigung und Mord zu bewahren, oder vor Hunger, Seuchen und Tod. Ich spreche von einer Menschlichkeit, die die Gefahr fürs eigene Leben und die eigene Sicherheit in Kauf nimmt. Meiner Meinung nach dürfte es kaum einen Staat geben, der solche Menschlichkeit höher schätzt als Israel. Tausende von Bäumen erinnern in der größten Holocaustgedenkstätte der Welt an mutige Menschen, die Mitmenschlichkeit lebten. Ein Volk zu versklaven, zu verschleppen und zu ermorden ist das schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das denkbar ist. Dasselbe gilt für das Aushungern eines wehrlosen Volkes. Darum schmerzt es mich, aber ich beschuldige die Regierung des Staates Israel eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit. 6 Schiffe mit Hilfsgütern für den von Israel blockierten Gazastreifen wurden von Elitetruppen der Armee Ihres Staates gestürmt. 9 Menschen wurden von Ihren Soldaten erschossen, hunderte aus internationalen Gewässern ins Hoheitsgebiet Israels verschleppt. Darunter befanden sich, soweit es Deutschland betrifft, zwei Bundestagsabgeordnete, also Parlamentarier, deren Verhaftung gegen internationales Recht verstößt. Vertreter Ihrer Regierung rechtfertigen den rücksichtslosen und brutalen Überfall auf einen Hilfskonvoi mit dem Kampf gegen den Terrorismus. Natürlich ist die Hamas eine terroristische Organisation, die die Vernichtung des Staates Israel erreichen will. Aber längst nicht alle Bewohner des Gazastreifens sind Hamas-Anhänger oder aktive Hamas-Mitglieder. Außerdem verwendet Ihre Regierung, Herr Ministerpräsident, das Wort „Terroristen“ auch gegenüber den Sponsoren, die die Lebensmittel, Medikamente und Bedarfsgüter gespendet haben, also gegenüber den Menschen, die Mitmenschlichkeit bewiesen haben. Ich bin Deutscher, und mir fällt sofort eine Analogie ein: Wer in der Zeit der schrecklichen nationalsozialistischen Herrschaft einen Juden versteckte, wer also Mitmenschlichkeit zeigte, galt als Terrorist, als Verräter. Ich frage Sie: Wie können Lebensmittel und Medikamente eine Provokation sein? Wo sind die Waffen, die der israelischen Bevölkerung geschadet hätten, wenn die Schiffe ihr Ziel erreicht hätten? Wie können Sie überhaupt behaupten, es gäbe keine humanitäre Krise in Gaza, während Sie das Gebiet vom Rest der Welt abschotten und keine lebenswichtigen Güter durchlassen? Wie zynisch ist eine Regierung, die es doch eigentlich besser wissen müsste?

Ich bin Deutscher, und natürlich werden Sie mir nicht zuhören, Herr Ministerpräsident, eben weil ich Deutscher bin und kein Recht habe, Israel zu kritisieren. Trotzdem wiederhole ich, was ich schon einmal sagte: Die israelische Regierung hat sich eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht, und gemordet hat sie auch. Sie hat spätestens damit ihre moralische Überlegenheit eingebüßt und wird sich einfach, wie jede andere Regierung auch, an ihren Taten messen lassen müssen. Wenn Sie keine Angst mehr vor Terrorismus haben wollen, wenn Sie Frieden für Ihr Volk wünschen, worin ich Ihnen von ganzem Herzen zustimme, dann bieten Sie Ihren Nachbarn einen fairen Frieden, wie es Ihr Vorgänger Rabin getan hat. Dass dieser mutige Mann sein Werk nicht vollenden konnte, lag nicht etwa an arabischen extremistischen Terroristen. Denen hatte er nämlich bereits größtenteils den Wind aus den Segeln genommen. Es lag an einem israelischen Extremisten, der ihn umbrachte. Meiner Ansicht nach brauchen Sie nur Rabins Politik wieder aufgreifen, vielleicht ist es dann für Israel, die Palästinenser und die anderen arabischen Nachbarn noch immer nicht zu spät. Menschenrechtsverletzungen aber, Verschleppung und Mord, führen Ihre Regierung nur weiter ins Abseits. Nicht nur international, so glaube und hoffe ich, sondern auch bei Ihrer eigenen Bevölkerung, die auch einen gerechten Frieden will.

Shalom

Jens Bertrams

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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