Folgenden Kommentar habe ich für Ohrfunk geschrieben, er ist sehr aktuell, aber eigentlich fürs Radio gedacht. Trotzdem hoffe ich, dass er informativ ist.11. September 2004 in Hannover: Rund 6000 Menschen marschierten durch die Innenstadt, um für den Erhalt des einkommens- und vermögensunabhängigen Blindengeldes in Niedersachsen zu demonstrieren. Die Landesregierung unter dem heutigen Bundespräsidenten Wulff und unter Federführung der heutigen Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen war drauf und dran, den Nachteilsausgleich für blinde Menschen abzuschaffen. Zwar tat sie dies auch zum 1. Januar 2005, aber schon wenig später wurde das Landesblindengeld wieder eingeführt, wenn auch auf niedrigerem Niveau. Die Großdemonstration in Hannover war nicht spurlos an den Verantwortlichen vorübergezogen. Und es war auch nicht die erste Demonstration ihrer Art: 3 Jahre zuvor sollte in Bremen das Blindengeld abgeschafft werden, mehr als 4000 Blinde, Sehbehinderte und Sympathisanten zogen im Juni 2001 durch die Bremer Innenstadt, mit durchschlagendem Erfolg, die Blindengeldabschaffung wurde nicht durchgeführt. Auch in anderen Bundesländern wie Bayern, Hessen und Thüringen hat es seither mehr oder weniger erfolgreiche Auftritte der Blindenselbsthilfe gegeben, und nun, an diesem Samstag, ist Kiel an der Reihe, denn in Schleswig-Holstein will die schwarz-gelbe Landesregierung das Blindengeld von 400 auf 200 Euro halbieren. Wieder wird mit mehreren Tausend Demonstrantinnen und Demonstranten aus dem gesamten Bundesgebiet gerechnet, doch die Politiker stellen sich langsam auf diese Art von Demonstrationen ein, und auch bei der Blindenselbsthilfe tritt ein gewisser Abstumpfungseffekt ein. Und vermutlich gibt es viele Menschen, die in Zeiten knapper Kassen eine Blindengeldkürzung durchaus für angebracht halten, wie es der politische Chefredakteur der Tageszeitung „Die Welt“, Konrad Adam, im Jahre 2005 öffentlich forderte.
Um zu verstehen, warum blinde und sehbehinderte Menschen so für ihren Nachteilsausgleich kämpfen, muss man zunächst einmal wissen, was das Blindengeld eigentlich ist, wie hoch es ist, und wofür es gebraucht wird.
Jeder, der weniger als 2 % Sehvermögen hat, hat einen Anspruch auf Blindengeld, das in der Regel von den Ländern gewährt wird. Es liegt irgendwo zwischen 250 und 560 Euro pro Monat, das ist von Land zu Land verschieden. Es wird pauschal und vom Einkommen und Vermögen des Betroffenen unabhängig gewährt, denn was man bei einer individuellen Bedürftigkeitsprüfung einspart, muss man durch die erhöhten Verwaltungskosten doch wieder ausgeben. Denn die Anzahl der Personen, die Blindengeld beziehen, ist relativ gering. In ganz Deutschland geht es um rund 125.000 Menschen. Oft erhalten Kinder nur die Hälfte des Nachteilsausgleichs. Aber selbst wenn man davon ausgeht, dass im Durchschnitt jeder Blinde 400 Euro monatlich erhält, so kosten die Blinden und Sehbehinderten die öffentliche Hand im Jahr rund 700 Millionen Euro. Dies sind weniger als ein viertel Prozent des Bundeshaushaltes, und wenn man Bund und Länder zusammen nimmt, verschwindet diese Zahl geradezu in den Statistiken. Wie gesagt, dies ist eine extrem ungenaue Rechnung, die lediglich verdeutlichen soll, wie wenig Geld die öffentliche Hand zusätzlich durch das Blindengeld ausgibt.
Was für den Staat Peanuts ist, ermöglicht den Betroffenen aber eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, ein selbstständiges Wohnen und die Versorgung mit benötigten Hilfsmitteln oder Informations- bzw. Kommunikationsmaterial. Für diese Dinge wird das Blindengeld nämlich in der Hauptsache verwendet. Punktschriftbücher kosten oft das 10- oder 20fache des üblichen Buchpreises, und längst nicht alle Bücher werden in Punktschrift oder als Hörbuch übertragen. Darum ist oft eine private Vorlesekraft vonnöten, die zurecht Anspruch auf Bezahlung geltend macht. Um möglichst selbstständig einen Haushalt führen zu können, werden oft kleine Hilfsmittel benötigt, zum Beispiel markierungen für die Einstellknöpfe der Herdplatten, sprechende oder mit Punktschriftziffernblatt versehene Haushaltsgeräte und ähnliche Dinge, die erheblich mehr kosten, als in einem durchschnittlichen Haushalt für normale Haushaltsgeräte ausgegeben wird. Je nach Fähigkeiten und Möglichkeiten des betroffenen kommen Ausgaben für eine Haushaltshilfe hinzu, oder es wird öfter ein Taxi benötigt, um selbstständig von einem Ort zum Andern zu kommen. All diese „behinderungsbedingten Mehraufwendungen“ werden durch das Blindengeld bestritten. Dem blinden oder sehbehinderten Menschen entstünde ein Nachteil in der Gesellschaft, wenn er aufgrund seiner Behinderung sein privates Geld nur für Hilfsmittel ausgeben müsste. Daher wird das Blindengeld auch als Nachteilsausgleich bezeichnet.
In den letzten Jahrzehnten hat die Behindertenbewegung viel erreicht. Menschen mit Behinderung nehmen selbstbewusster am gesellschaftlichen Leben teil, engagieren sich und lassen in Politik, Selbsthilfe und anderen Interessenverbänden ihre Stimme hören. Sie engagieren sich in Kunst, Sport und Musik und gehören mehr und mehr zum allgemein üblichen Straßenbild. Dies ist ein großer Fortschritt, auch wenn es noch viel zu tun gibt. Blinde und sehbehinderte Menschen sind sich aber stets darüber im Klaren, dass es nicht zuletzt das Blindengeld ist, dass ihnen ein von unbezahlter Hilfe unabhängiges, gleichberechtigtes Leben mitten in der Gesellschaft erst ermöglicht. Darum ist der Kampf ums Blindengeld so wichtig, auch in Zeiten leerer Kassen.
Immer wieder wird angeführt, auch die Blinden und Sehbehinderten müssten einen Beitrag zur Lösung der Finanz- und Wirtschaftskrise leisten. Vergessen wird dabei, dass sie das ja bereits tun. Jede Steuererhöhung, jeder Lohnverzicht, jede Arbeitszeitverlängerung, jede Sparmaßnahme trifft auch blinde und sehbehinderte Mitbürgerinnen und Mitbürger. Es ist nur nicht einzusehen, warum sie doppelt zahlen und dabei einen Teil ihrer Selbstständigkeit einbüßen sollen. Darum werden auch an diesem Wochenende tausende in Kiel auf die Straße gehen und rufen: „Hände weg vom Blindengeld.“