Erinnerungen an Tschernobyl

Heute vor 25 Jahren Ereignete sich der Super-GAU von Tschernobyl. Dies sind meine Kurzerinnerungen.

 

 

˲!ကĀŸ< Ÿ<Es war eine der lustigsten und merkwürdigsten Veranstaltungen meiner Schulzeit. Meine ganze Klasse hatte sich in die Boote begeben, wir waren ein paar Meter auf den Edersee hinausgerudert, und dann hatten wir uns gesammelt. Unser Ruderlehrer war ein Alleinunterhalter, wenn er wollte, und er führte uns durch den Abend. Gäste waren auch da, sie standen am Bootssteg und sahen uns zu. Die Sonne versank im See, während einige von uns irgendwelche Kunststückchen vollführten. Meistens unsere Begleiter, die eine Woche lang mit uns durch die Gegend gerudert waren, aber auch ein paar Schülerinnen und Schüler. Jeder von uns war heute ohne sehende Begleitung auf dem See gewesen, eine tolle Erfahrung. Unsere Klassenlehrerin hätten wir beinahe in den See geworfen, wenn sie uns nicht erlaubt hätte, sie zu duzen. Und nun saßen wir alle in den Booten und lauschten musikalischen Darbietungen von Bord eines Skiffs oder ließen uns irgendwelche Ballancekunststückchen erklären. Ein fröhlicher Samstag im Frühling, der Abend eines sonnigen Tages. Wann das war? Ach ja: Heute vor 25 Jahren, am Abend des 26. April 1986. Es war ein Tag wie jeder Andere. Oder doch nicht?

Über das, was folgte, bin ich mir nicht mehr hundertprozentig sicher. Ich meine mich zu erinnern, dass wir beim Putzen der Ruderboote waren, als erstmals von erhöhter Radioaktivität in Schweden die Rede war. Ich weiß es aber nicht mehr. Wir standen auf einem freien Platz, vor uns auf böcken die Boote, mit denen wir eine Woche lang den Edersee befahren hatten. Die Stimmung war gut. Einer von uns hatte einen Kassettenrekorder dabei, und aus dem erklang Musik. „Say you, say me“ von Lionel Richie hat sich mir eingeprägt. Ich glaube noch, einen Klassenkameraden von mir sagen zu hören: „Ich hab in den Nachrichten gehört, dass in Schweden stärkere Atomstrahlung gemessen wurde.“ Aber ich kann es nicht mehr beschwören. Das liegt auch daran, dass ich tatsächlich nicht mehr weiß, ob dieses Putzen der Boote am Nachmittag des 27. oder des 28. April stattfand. Ich befürchte, es war der 27., und dann konnten wir noch nichts davon hören, denn es ist erwiesen, dass erst im Laufe des 28. April diese Nachricht aus Schweden eintraf.

Ich weiß, dass ich eines Abends die Tagesschau hörte. Es mag der 29. oder 30. April gewesen sein. Es habe möglicherweise viele Tote gegeben, hieß es, die Sowjetunion informiere aber nicht vernünftig. Die radioaktive Wolke ziehe auch nach Westeuropa. In Bonn sei ein Krisenstab gebildet worden, allerdings sei eine Gefahr für die deutsche Bevölkerung ausgeschlossen.

An diesem Wochenende besuchte ich meine Eltern. Meine Mutter, Jahrgang 1929, wetterte kräftig gegen die Atomkraft. Es sei unverantwortlich, ein Mittel zu erfinden, mit dem die Menschheit sich vernichten könne. Und man könne ihr nicht erzählen, dass uns das nicht schaden könne. – Ansonsten geschah nichts.

Aber als ich am 5. Mai 1986 in die Schule zurückkehrte, war alles anders. Es galten ab sofort neue und strikte Regeln. Regel Nr. 1 betraf unsere Schuhe und Jacken. Die mussten wir, wenn wir von draußen kamen, vor dem Wohnungseingang ablegen. Dazu wurden Regale in den Hausflur gestellt. Dort hinein kamen die Schuhe. Wir fragten sofort, was uns das bringen sollte, denn die Strahlung würde sicher auch durch die Wohnungstür dringen, aber unsere linken, fortschrittlichen Betreuer bestanden auf diesen Umweltmaßnahmen. Während des Regens sollten wir uns möglichst nicht draußen aufhalten, das war die Regel Nr. 2. Und ja: Der Verzehr von Frischgemüse wurde eingeschränkt.

In der Schule wurde der Chemieunterricht für 2 Wochen verändert. Dort wurden wir jetzt über Bequerel und Geigerzähler aufgeklärt. Ich erinnere mich noch, dass wir auch mal versucht haben, ein solches Gerät zu bedienen, aber irgendwie klapte es nicht. So habe ich aus eigenen Messungen nie erfahren, ob in Marburg die Radioaktivität erhöht war oder nicht.

Sie war es. Die Oberhessische Presse, unsere Lokalzeitung, berichtete damals, dass die Strahlung bei Bodenproben in Marburg das Achtfache der in der nähe kerntechnischer Anlagen höchstens erlaubten Dosis betrug. Das hat mir Angst gemacht. Dass für Kinder das Spielen auf der Straße und auf Wiesen verboten wurde, hörte ich auch, aber gleichzeitig beteuerte die Regierung, es gäbe keine Gefahr für die Bevölkerung.

Bruno Jonas, ein bekannter Kabarettist, machte sich über die französische und deutsche Informationspolitik lustig. Sie laufe nach dem Motto: Wenn die Wolke die Tricolore an der französischen Grenze sehe, werde sie stoppen.

Dann fuhren meine Eltern und ich in die Niederlande. Es war über Pfingsten, wenn ich mich recht erinnere. Unser Feriendomizil lag in einem Gebiet, in dem es viele Bauern gab. Die Tiere waren im Stall, für diese Jahreszeit sonst vollkommen unüblich, und die Bauern beschwerten sich über Einkommenseinbußen. Mit ihren Feldern konnten sie in diesem Frühjahr kaum etwas anfangen. Anbau von Gemüse war sinnlos, man konnte es nicht verkaufen. Auch die Milchprodukte waren nicht an den Mann zu bringen. Stattdessen wurde Trockenmilch gekauft. Anfang Juni sagte meine Mutter: „So ein Quatsch. – Wenn es uns treffen soll, dann trifft es uns.“ Und dann kaufte sie wieder Milch beim Bauern.

Ungefähr zur selben Zeit verschwanden die Schuhregale, und keiner bestand mehr darauf, dass wir Jacken und Schuhe vor der Wohnungstür abstellten. Über das Unglück in Tschernobyl wurde wieder mit politischen Stammtischparolen gesprochen. Die große persönliche Angst hatte sich bei uns nur ungefähr 4 Wochen gehalten. Warum? Ich weiß es nicht.

Ich weiß aber, dass Tschernobyl langfristig wirkte. Wenn unsere Kraftwerke auch sicherer waren als die in der Sowjetunion, woran selbst unsere linken Betreuer und Lehrer nicht zweifelten, so konnte und kann sich ein solcher Unfall doch auch im Westen ereignen. Dessen mussten wir uns immer bewusst sein, und ich habe es nie vergessen.

Dass die Grünen die Wahl 1987 nicht gewonnen und den Bundeskanzler gestellt haben, zeigt deutlich, dass man in Deutschland sich zwar kurzfristig aufregte, aber auch schnell vergaß. Das war in diesem Jahr mit Japan nicht anders.

 

 

Hier der Link zum Wikipediaartikel über Tschernobyl.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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