„Der deutsche Bundestag hat am Donnerstag den Ausstieg Deutschlands aus der Kernenergie beschlossen!“ – Aha? – „Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) bezeichnete den Beschluss als Revolution!“ – Ach so! – Also nichts neues?
Als ich beiläufig den Satz fallen ließ, dass ich mich mit dem Atomausstieg befassen wolle, sagte eine Stimme aus dem Volk zu mir: „Ach Gott, es gibt wichtigeres. Man muss doch nicht jedem Furz hinterher laufen.“ Mein Erstaunen ob dieser derben Beurteilung der historischen Energiewende in einem gesellschaftlichen Großkonsenz war nur kurz. Dann besann ich mich. Und obwohl ich das Vorhaben, mich mit dem Ausstieg zu befassen, nicht aufgegeben habe, kann ich nicht umhin, Volkes Stimme Recht zu geben. Denn schon einmal habe ich mich über einen Atomausstieg gefreut, nämlich vor ziemlich genau 10 Jahren, ende Juni des Jahres 2001. Damals blickte ich noch optimistisch in die Zukunft, dachte tatsächlich an eine Wende in der Energiepolitik, hätte aber niemals das Wort Revolution gebraucht. Die CDU hingegen, die ja sonst nicht gerade für ihre revolutionären Thesen berühmt ist, bemühte den Terminus im letzten Jahr gleich zweimal. Zunächst beim Ausstieg aus dem Ausstieg im September 2010, als der Industrie gestattet wurde, die Atommeiler bis längstenfalls 2042 laufen zu lassen, und jetzt beim Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg. Angela Merkel und Norbert Röttgen sind zu echten Revolutionären geworden, allerdings wissen sie nicht so recht, in welche Richtung ihre Revolution nun gehen soll. Oder doch?
Volkes Stimme hat vermutlich die Situation durchschaut und mag nicht einstimmen in den Chor der großen Medien, die den Ausstieg herbeireden, weil es gerade opportun ist und Geld bringt. Wer mit einem gerüttelt Maß an Erfahrung auf politische Entwicklungen und die allgemein üblichen Hinterzimmergespräche und -Schachereien blickt, sieht die atomfreie Zone Deutschland mit etwas anderen Augen.
Wer in der Politik etwas werden und etwas bleiben will, kämpft um Wählerstimmen und fällt die Entscheidungen so, dass sie die aktuelle gefühlte gesellschaftliche Großwetterlage wiederspiegeln, sagt die niederländische Sozialwissenschaftlerin und grüne Ex-Politikerin Femke Halsema. Unter diesem Blickwinkel wird es nachvollziehbar, auch wenn es weiterhin falsch ist, dass CDU und FDP den Atomausstieg 2011 zu ihrem Ausstieg machen. Dabei haben sie nur mit großem Getöse zurückgenommen, was sie 9 Monate zuvor schnell und möglichst leise beschlossen hatten, die Aufhebung des rot-grünen Ausstiegsplans von 2001 nämlich. Wer glaubt, dass dieser neue Ausstieg ohne Kompensation für die Großkonzerne vonstatten geht, muss politisch und wirtschaftlich äußerst naiv sein. Meine Volksstimme besitzt offenbar eine natürliche Immunität gegen Naivität, denn sie verwarf den jetzigen historischen Beschluss augenblicklich. Wenn man ihn einmal zurückziehen konnte, dann kann man das auch ein zweites mal tun, sobald die Aufregung um Fukushima sich gelegt hat.
Und da ist was dran. Keiner bestreitet, trotz der vollmundigen Revolutionsretorik des Umweltministers und des staatsmännischen Lächelns der Kanzlerin, dass die Union und die FDP mit viel weniger Herzblut für die sogenannte Energiewende stimmten, als sie letztes Jahr für die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke gestimmt hatten. Das wäre billiger und einfacher gewesen, hätte mehr Geld gebracht und hätte sogar kurzfristig die Umwelt geschont. Und passiert wäre schon nichts, nicht in Deutschland, zumindest nicht in den nächsten 40 Jahren. Und wer weiß, vielleicht wäre bis dahin ja eine Wundertechnologie vom Himmel gefallen, die noch mehr wirtschaftlichen Aufschwung für die Monopolkapitalisten der wettbewerbsorienttierten Marktwirtschaft gebracht hätte. Dumm, dass man jetzt diesen Umweg gehen muss. Erst einmal die Energiewende beschließen, dann von riesigen Schulden sprechen, damit den nächsten Wahlkampf machen, Sozialkürzungen und hohe Benzinpreise ankündigen, und nach der Wahl dann, ohne Fukushima zu erwähnen, den Atomausstieg wieder zu kippen. Warum hat die Union wohl verhindert, dass der Atomausstieg im Grundgesetz verankert wird? Weil man dann zu dessen erneuter Aufhebung eine Grundgesetzänderung mit den Stimmen der Grünen und der SPD gebraucht hätte. So aber bleiben der CDU und der FDP alle Türen offen, der pompöse Ausstieg ist also ein wahltaktisches Manöver. Er spekuliert auf die Dummheit und das Kurzzeitgedächtnis der Wähler in der Mediakratie.
Dummheit in der ersten Phase, dem Vorwahlkampf. Da tut man so, als sei man die Speerspitze eines atomfreien Deutschland, als habe man den Atomausstieg praktisch erfunden. Damit nimmt man den Grünen Wähler weg, zumal die ohnehin davon enttäuscht sind, dass die Grünen keinen schnelleren Ausstieg vertreten haben. In der zweiten Phase des Plans spekuliert man auf das elektorale Kurzzeitgedächtnis, und das zu recht. Denn wer erinnert sich nach den nächsten Wahlen, oder während des Wahlkampfes, noch an Fukushima? Niemand. Und selbst wenn, dann wird es den Leuten wegen der medialen Massenpräsenz zum Hals heraus hängen. Und deshalb wird die CDU-FDP-Regierung ab 2013, denn eine andere wird es nicht geben, nach der Wahl den Atomausstieg rückgängig machen können, ohne eine gesellschaftliche Revolution auszulösen. Höchstens einen Sturm im Wasserglas bei ein paar linken Träumern oder chaotischen Extremisten. Das wird genau so funktionieren wie 2010, nachdem man die Wählerstimmen kassiert hat, die man als Dank für die sogenannte Energiewende bekam.
Das ist die Tragik des jetzt beschlossenen Ausstiegs: Die Medien jubeln ihn hoch, die Grünen jubeln not gedrungen mit, aber die Regierung profitiert davon, die Kanzlerin schafft ihren Ruf als entschlossene Politikerin und kann später in Ruhe abwarten, bis die Wogen sich gelegt haben. Und eigentlich wissen die Wähler, dass sie betrogen werden, sind aber zu faul und zu resigniert, um sich zu wehren. Und damit setzen sie wissentlich und willentlich ihre eigene Zukunft aufs Spiel. Somit ist der Atomausstieg 2011 weder eine Energiewende noch eine historische Zäsur, sondern eine politische Posse. Allerdings, liebe Stimme des Volkes: Gerade dann muss man sich darum kümmern und sie aufdecken, denn die Hoffnung auf den mündigen Wähler stirbt bekanntlich zuletzt, auch heute noch.