Die weltoffene Mainmetropole Frankfurt gleicht einer belagerten Festung. 5000 Polizisten schützen die Bürger vor Meinungen, die sie nachdenklich machen und aufrütteln könnten. Vor antikapitalistischen Meinungen zudem. Über 70 meist kulturelle Veranstaltungen der sogenannten Blockupy-Bewegung wurden von der Stadt kurzerhand verboten, und die Verwaltungsgerichte bis hinauf zum hessischen Verwaltungsgerichtshof haben es bestätigt. Da bleibt einem wohl nichts anderes übrig, als mal wieder einen Abgesang auf ein Grundrecht anzustimmen. Glauben Sie mir, seufzt da der einfache Blogger, es gäbe vieles, was ich lieber täte.
„Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“ So lautet der Artikel 8 Absatz 1 des deutschen Grundgesetzes. Ein breites Bündnis von Gruppierungen und Personen, die das europäische „Spardiktat“ und die Ausgestaltung des Kapitalismus allgemein kritisieren, hat für die Zeit vom 17. bis zum 19. Mai rund 70 Veranstaltungen in Frankfurt angemeldet, um ihrem Protest Luft zu machen. Dazu gehörten Podiumsdiskussionen, Konzerte, Tanzdemonstrationen und auch Blockaden der europäischen Zentralbank und anderer Institutionen im Bankenviertel. Erklärtes Ziel war es, die Arbeit dieser Institutionen und Banken symbolisch für ein paar Stunden lahmzulegen und die Bürger politisch zu Bilden. Dieses Bündnis schloss sich unter dem Namen „Blockupy“ zusammen und meldete seine Veranstaltungen an. Die Stadt Frankfurt reagierte mit einem allgemeinen Verbot aller Veranstaltungen. Zwar wandte sich Blockupy an die Gerichte, aber die schmetterten die meisten Einwände ab und erlaubten letztlich nur eine Großdemonstration zum Abschluss. Wie kann das sein? Wie ist es in einem Rechtsstaat möglich, dass die Meinungsfreiheit rechter Spinner geschützt wird, friedliche linke Protestkundgebungen, Konzerte, Tänze und Podiumsdiskussionen aber pauschal verboten werden? Haben nicht alle deutschen das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln?
Jetzt ist der Zeitpunkt, den Absatz 2 des Grundgesetzartikels 8 zu lesen. Er lautet: „Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.“ Als ich von der Verbotswelle gegen Blockupy hörte, kannte ich diesen Absatz zwar, war mir aber sicher, dass es für eine Beschränkung handfeste Gründe geben muss. Das Versammlungsrecht, auch das Demonstrationsrecht, das ein Teil des Versammlungsrechts ist, ist eine Säule unserer Demokratie, es gewährleistet eine Form der Meinungsäußerung und gibt damit auch der Meinungsfreiheit eine konkrete Ausgestaltung. Ich habe mir also die Mühe gemacht, mir das Versammlungsgesetz anzusehen, das nähere Regelungen zum Versammlungsverbot enthält. Inzwischen gehört das Versammlungsrecht zu den Kompetenzen der einzelnen Bundesländer, aber solange ein Land noch kein eigenes Gesetz dazu erlassen hat, gilt das Bundesgesetz fort, so z. B. auch in Hessen. Im § 15 Absatz 1 dieses Gesetzes ist geregelt, dass die zuständige Behörde eine Versammlung verbieten kann, „wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist.“ Diese unmittelbare Gefährdung ist im Hinblick auf die hohe Bedeutung des Art. 8 GG anhand konkret belegbarer Tatsachen aufzuzeigen: Bloße Vermutungen, Annahmen und Erfahrungssätze reichen dafür nicht aus, es bedarf einer sogenannten „konkreten Gefahrenprognose“. Aber ist eine Gefahrenprognose nicht auch nur eine Prognose? Stützt man eine solche Prognose nicht immer auf Vermutungen? Und wenn nicht: Welche konkreten Tatsachen ließen die Polizei und die Gerichte um die „öffentliche Sicherheit oder Ordnung“ fürchten? Und was ist das überhaupt, die „öffentliche Sicherheit oder Ordnung“?
Die öffentliche Ordnung sind ungeschriebene Benimmregeln im öffentlichen Raum, also auf Straßen und Plätzen, in öffentlich zugänglichen Gebäuden oder an „Orten des allgemeinen kommunikativen Verkehrs“ wie z. B. Flughäfen. Sie wird hier kaum als Verbotsgrund herhalten. Anders ist es mit der sogenannten öffentlichen Sicherheit. Es handelt sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der im Einzelfall mit konkreten Inhalten gefült werden muss. Allgemein anerkannt ist jedoch, dass zur öffentlichen Sicherheit die „Unversehrtheit der objektiven Rechtsordnung“, also die Einhaltung der bestehenden Gesetze und Verordnungen gehört, sowie (die Unversehrtheit) der „subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen und von Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates“. Die „öffentliche Sicherheit“ ist also dann gewahrt, wenn man sich an die Gesetze hält, wenn jeder Mensch seine und jede Institution ihre Rechte wahrnehmen kann, und wenn „Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates“ nicht gestört sind. Darunter kann ja, so dachte ich entsetzt, alles fallen. Im Ernstfall bedeutet es ja, dass es durch eine Versammlung keinerlei Einschränkung geben darf. Ganz so einfach ist es aber nicht. Weil das Versammlungsrecht ein Grundrecht ist und jedem Bürger zusteht, muss die öffentliche Sicherheit schon erheblich gefährdet sein, um einen Verbotsgrund zu liefern. Ein Konzert beispielsweise, eine Podiumsdiskussion oder ein Umzug würde normalerweise ja nicht die Rechte anderer Menschen verletzen. Weil ein Versammlungsverbot eine Einschränkung eines sehr wichtigen Rechts ist, muss man immer zwischen den Rechten der Versammlungsteilnehmer und den Rechten anderer Bürger abwägen. Bislang kam man eigentlich recht häufig zu der Ansicht, dass kulturelle und politische Veranstaltungen an sich keine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit darstellen. Nicht so in Frankfurt. Regelmäßig ging man bislang eigentlich immer davon aus, dass es zu einer erheblichen Einschränkung der öffentlichen Sicherheit möglicher Gewalttaten bedarf. Dass das Blockupy-Bündnis schon aus wohl verstandenem Eigeninteresse jede Gewalt während der Protesttage ablehnt, versteht sich von selbst. Hier geht es nicht um Demonstrationen, die den Hass auf andere Menschen zum Gegenstand haben, wie bei Demonstrationen rechter Gruppierungen oft, sondern um bildende, informierende, unterhaltende und – das schon – blockierende Veranstaltungen. In der Zusammenfassung des Verwaltungsgerichtsurteils, das die Verbote bestätigt, und die auf juris.de zu lesen ist, findet sich zur Begründung des Verbots folgende Passage: „Die Veranstaltungshinweise im Internet sähen den 18.05.2012 als Tag der Massenblockade der EZB und des Finanzzentrums vor. Selbst wenn solche gezielten Blockaden noch unter den Schutz der Versammlungsfreiheit fallen sollten, weil sie nur „demonstrativ“ gemeint seien und nicht mit Gewalttätigkeiten einhergingen, seien sie jedenfalls deshalb rechtswidrig, weil den damit verbundenen Beeinträchtigungen der in diesen Bereich wohnenden Frankfurter Bürger, der Geschäftstreibenden, der Banken und der Mitarbeiter der Banken und der Vielzahl der sonst von derartigen Aktionen Betroffenen bei einer Abwägung im Rahmen der praktischen Konkordanz größeres Gewicht beizumessen sei als dem Interesse der Antragsteller ihr Anliegen über Blockaden öffentlichkeitswirksam darzustellen.“ Zu deutsch: Wenn man das Recht der Banken, immer zu funktionieren, das Recht der Autofahrer, schnell zum Ziel zu gelangen und das Recht der Geschäftsleute, zu verdienen, also ihr Berufs- und Eigentumsrecht auszuüben, mit dem Recht der Versammlungsteilnehmer auf Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit in Einklang bringen will, so dass all diese Rechte optimal zur Geltung kommen, wie es die „praktische Konkordanz“ verlangt, muss man den Geschäftsleuten, Banken und Autofahrern weiter entgegen kommen als den Menschen, die um die Zukunft des Landes, die Würde des Einzelnen und die soziale Sicherung der Menschen fürchten. Das Gericht hat wohl selbst gemerkt, dass es hier ein entscheidendes Grundrecht zu einer bloßen Verschiebemasse herabstuft und schickte noch eine weitere Begründung hinterher: Die Polizei rechne mit rund 2000 gewaltbereiten Personen während der Veranstaltungstage. Das ist ja eine Keule, gegen die niemand was ausrichten kann. Zwar hätte die Polizei dies anhand konkreter und nachweisbarer Tatsachen belegen müssen, aber das Gericht sah das mal nicht so eng.
Wie wir nun in der Praxis gesehen haben, gab es keine Gewalttätigkeiten von Seiten der Demonstranten, auch wenn sie von der Polizei mit einem Aufgebot provoziert wurden, dass einer Horde paramilitärisch operierender Terroristen zur Ehre gereicht hätte. Frankfurt war und ist im Ausnahmezustand, das Grundrecht auf Versammlung und damit auch ein Teil des Rechts auf freie Meinungsäußerung ist faktisch abgeschafft. Man darf nicht mal für die Einhaltung dieser Grundrechte demonstrieren.
Vermutlich ist die Verbotsverfügung mit Ausnahme der völlig überzogenen polizeilichen Gefahrenprognose juristisch korrekt, so wie das Ermächtigungsgesetz, das die weimarer Republik endgültig beendete und Adolf Hitler zum Diktator machte, rein juristisch korrekt war. Aber dieses gerichtlich sanktionierte Verbot ist ein Verrat an einer Werteordnung, die das Grundgesetz aufgestellt hat. Diese Werteordnung soll die Rechte des Einzelnen schützen, gerade als Antwort auf die Erfahrungen aus der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben sich sicher nicht vorgestellt, dass in der Praxis die Versammlungsfreiheit korrekterweise für die Rassisten von „Pro NRW“ geschützt wird, für Menschen aber, die auf dem Boden des Grundgesetzes stehen und gegen ausbeuterisches Finanzverbrechen demonstrieren wollen aber eingeschränkt wird. Daher betrachte ich die Verbotsverfügungen trotz ihrer scheinbaren Korrektheit als rechtswidrig, weil sie dem Verfassungsgeist und -Sinn in eklatanter Weise entgegen stehen. Diese Menschen sind es doch, die den kritischen Geist darstellen, den wir brauchen, um unsere Grundwerte und Grundrechte zu erhalten. Friedliche Demonstrationen dürfen nach meiner Auffassung überhaupt nur im absoluten Ausnahmefall eingeschränkt werden, ein Verbot kann es nach meiner Ansicht eigentlich gar nicht geben.
Eine weitere Begründung des Verbots zeigt deutlich, welcher Geist in Deutschland um sich greift. Ein Polizeisprecher äußerte öffentlich: „So werden Bürger mit Meinungen konfrontiert, denen sie nicht oder nur schwer ausweichen können.“ Das ist ja gerade der Sinn der Demonstrations- und Versammlungsfreiheit: Menschen sollen über Meinungen informiert, mit ihnen konfrontiert werden, ohne ihnen sofort ausweichen zu können. Versammlungen sollen Aufmerksamkeit erregen, das ist ihr Sinn und Zweck. Dass dieser Zweck nun als Verbotsgrund herhalten muss, macht den traurigen Zustand des deutschen Demokratieverständnisses deutlich. Vor ein paar Wochen habe ich es noch in überzogener Form geschrieben, dass nämlich nur noch von der staatlichen Rechtsordnung geschützt ist, wer dem goldenen Kalb unserer Tage, dem ungezügelten und unregulierten Bankenkapitalismus, der Markthörigkeit und der staatlichen Sparwut huldigt. Nun stellt sich heraus, wie weit die von mir ironisch „gelebte Verfassung“ genannte Sichtweise von Freiheitsrechten schon um sich gegriffen hat. Blockupy war im Gegensatz zu vielem, was auf der rechten Seite des politischen Spektrums geschieht, eine friedliche Aktion. Hier haben sich politisch engagierte Bürger der Rechte des Grundgesetzes erinnert und sie genutzt. Etwas, was von den Politikern normalerweise immer als etwas positives dargestellt wird. Wir brauchen die Bürgerpartizipation, rufen sie besorgt in ihren Sonntagsreden aus. In Wahrheit brauchen sie nur Marktschreier ihrer eigenen Politik, Ja-Sager, aber keine kritischen Bürger. Kritik an der Wirtschaft wird als staatsfeindlich und gewalttätig angesehen, Kritik an Völkerverständigung, Frieden und Menschenrechten gilt als Wahrnehmung der Meinungsfreiheit. Das ist gerade in Deutschland nicht nur enttäuschend, sondern empörend und beschämend.
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