Wie beschreiben wir die Gegenwart? Auf diese Frage bin ich durch zwei Artikel in der Zeit aufmerksam gemacht worden, die sich mit diesem Themenkomplex auseinandersetzen.
Menschen einer bestimmten Generation reden gern und oft von Postdemokratie und Spätkapitalismus. Der marxistischen Logik folgend wähnen sie den Kapitalismus kurz vor dem Zusammenbruch und geben damit sogar einer Hoffnung der Wende zum Besseren Ausdruck. Bezüglich der Postdemokratie bedauern sie den Verlust der Demokratie, die ihre Generation mit aufgebaut und verteidigt hat. Es sind die sogenannten 68er oder das, was von ihnen übrig ist. Aber ist ein Begriff wie Demokratie im heutigen Sinne nicht ebenso eine Modeerscheinung wie der real existierende Sozialismus es war?Sicher: Den Begründern dieser Demokratie erschien sie nach dem zweiten Weltkrieg als wertvoll, aber sie scheint doch nur ein Projekt einer Generation geblieben zu sein. Es ist ihr nicht gelungen, den Wert dieser Gesellschafts- und Regierungsform jenseits ihrer prozeduralen öffentlichen Akte an ihre Kinder zu vererben. Daher mögen sie von „Postdemokratie“ sprechen, als gehe damit eine Epoche zu Ende. Das ist auch sicher so, aber die Epoche ist kleiner und weniger epochal, als ihre Protagonisten es gern glauben möchten. Ihr Festhalten an der Demokratie ist freilich begreiflich: Sie haben um sie gerungen, wenn sie sie auch nie ganz erreichten, lediglich im rückblickend verklärenden Auge ihrer eigenen Betrachtungen. Mit dem Begriff „Postdemokratie“ trauern sie einer Vision nach, die sie endgültig zu verlieren fürchten. Dasselbe gilt für den Spätkapitalismus, wobei mit dieser Redewendung das Krisenhafte des derzeitigen Wirtschaftssystems implizit angesprochen wird, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als warte man, vom hohen Ross marxistischer Logik und Theorie geschützt und beflügelt, mit einer gewissen Schadenfreude auf den längst vorhergesagten Zusammenbruch. Und gleichzeitig schwingt Angst mit im Begriff des Spätkapitalismus: Angst vor Wohlstandsverlust.
Griffige Beschreibungen der Gegenwart sind also selten Frei von Retrospektiven. Am deutlichsten lässt sich das am Begriff der Spätmoderne festmachen, einem Begriff, der so klingt, als beschreibe er die ganze Vielfalt der Welt: Kultur, Gesellschaftsleben, Kunst und Politik. Doch von objektiver Beschreibung ist er weit entfernt, er ist nicht nur durch seine bloße Sprachform rückblickend. Er beschreibt das goldene Zeitalter der Moderne, modern = positiv, zukunftsorientiert und optimistisch, als krisengeschüttelt oder bereits vergangen, je nach Blickwinkel. Armin Nassehi, Professor für Soziologie, beschreibt diese Post- oder Spätmoderne in der Zeit so: „Modernität erlebt sich deshalb als Krise, weil sie die Widerständigkeit der Gesellschaft für intervenierende Zugriffe erlebt. Auf politische Rahmenbedingungen reagiert die Ökonomie ökonomisch und konterkariert oft die politische Intention; das Bildungssystem vermag die Probleme nicht so schnell zu lösen, wie es in politischen Öffentlichkeiten oder in Unternehmen gebraucht wird; Wissenschaft erzeugt widersprüchliche Analysen, weil sie eben in erster Linie wissenschaftliche Probleme löst; ökonomische, politische und rechtliche Formen entziehen sich ethischen Begründungsalgorithmen; politische Plausibilität muss sich vor einem Publikum bewähren, das womöglich wollen müsste, was es nicht will; ökonomische Prosperität und ihre Parameter erzeugen trotzdem ökonomische Not und Ungerechtigkeit.“ Bringen Sie eine solche Beschreibung mal auf einen wertfreien Begriff.
Der Mensch liebt Kategorisierungen, er möchte offenbar selbst die Gegenwart bereits in eine historische Epoche einordnen. Vor allem muss die Einordnung in bekannte Erklärungsmuster erfolgen, weil sonst in einer komplexer werdenden Gegenwart gleichsam der innere Kompass, der Kompass der Gesinnung und die Orientierung im Dschungel postideologischer Wirklichkeit fehlt. Denn wer die Gegenwart der Ökonomie, der Gesellschaft und der Politik rein ideologisch beschreibt, blendet bewusst viele Zusammenhänge aus. Es spricht nichts dagegen, bei der Beschreibung der Gegenwart mit einer Retrospektive zu beginnen, verbunden mit einer von vielen Menschen empfundenen persönlichen Gefühlslage. Aber reicht das aus?
Viele mögen sich fragen, wofür wir wissenschaftliche Beschreibungen der Gegenwart, soziologische und politikwissenschaftliche Denkmodelle überhaupt brauchen? Sie sind das Fundament für die Bewältigung der Gegenwart und für die Gestaltung der Zukunft. Wer Begriffe wie Postdemokratie und Spätmoderne verwendet, der mag ein aus seiner Sicht zutreffendes Erklärungsmuster politisch-gesellschaftlicher Vorgänge haben, aber er möchte zu etwas zurück, und die Geschichte lehrt uns, dass es ein Zurück nicht gibt. Selbst dort, wo politische Strömungen bewusst das Rad der zeit zurückdrehen wollen, wenn sie beispielsweise totalitäre Ständestaaten anstreben, wird doch immer eine ganz neue Herrschaftsform ausgeprägt, weil sie sich den Gegebenheiten der Gegenwart anpassen muss. Also müssen wir uns vielmehr mit der Frage befassen, welche zukünftige Regierungs- und Gesellschaftsform wir anstreben, was wir aus dem gegenwärtigen Zustand machen. Gern möchten wir positive gegenwärtige Zustände erhalten und sie eine dauerhafte Epoche nennen. Aber es ist eine Binsenweisheit, dass sich Politik und Gesellschaft im Zustand ständiger Transformation befinden. Die von vielen so oft verlachten Utopien sind es, die versuchen, künftige Entwicklungen vorweg zu nehmen, die sich nicht im Konservatismus erschöpfen, der das einmal erreichte zu bewahren sucht und mit Schmerz und Rückzug reagiert, wenn es ihm entgleitet.
So brauchen wir meiner Ansicht nach gute und wertfreie, klare und analytische Gegenwartsbeschreibungen. Eine Weltformel für Politik, Gesellschaft und Wirtschaft wird es nicht geben, man muss der Komplexität, die wir wissenschaftlich erfassen können, Rechnung tragen. Die Entfremdung des Einzelnen mit dieser komplexen Gegenwart wird nur schwer zu beseitigen sein, es sei denn, wir streben bewusst eine Zukunftsentwicklung an, in der Werte, denen sich die meisten Menschen verpflichtet fühlen können, zum Allgemeingut geworden sind. Dazu brauchen wir Utopien, die mögliche Entwicklungen aus der Gegenwart heraus aufzeigen, und die von mehr und mehr Menschen geteilt werden. Statt zu fragen, was uns verloren ging, sollten wir fragen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen.
Ich bin in der Spätdemokratie aufgewachsen, was den Kapitalismus angeht, bin ich mir nicht sicher, und der Begriff der Moderne ist mir fremd. Die Postdemokratie kann ich jedoch täglich erleben: Der Einfluss des Parlaments sinkt, die Gesetze werden von Wirtschaftsverbänden gemacht und, um ein beliebtes Wort der Kanzlerin zu gebrauchen, „alternativlos“ durch kleine Zirkel in Hinterzimmern beschlossen. Es nützt nichts, eine wertkonservative Instanz wie das Bundesverfassungsgericht dazu aufzufordern, die Demokratie zu retten, wenn an dieser Rettung kaum gesellschaftliches Interesse besteht. Wir brauchen eine Utopie von der Demokratie von morgen, eine Utopie, die auch bei den jungen Menschen Anklang findet, die ihre Bedürfnisse befriedigt und sie zum Handeln für das Gemeinwohl ermutigt, ohne Zwang, ohne Repressalien. Demokratie, oder wie auch immer eine zukünftige Herrschaftsform heißen wird, muss die Menschen nicht nur wirtschaftlich betrachten und in ihren körperlichen Grundbedürfnissen zufriedenstellen.
Es geht mir nicht darum, meine persönliche Vision einer solchen Herrschaftsform zu entwerfen, das möchte ich einem späteren Beitrag vorbehalten. Es geht mir darum, dass wir uns von Betrachtungsweisen verabschieden, deren Sinn maßgeblich in der Bewertung des Vergangenen liegt. Wertfreie Beschreibungen der Gegenwart können helfen, den Weg für tragfähige Zukunftskonzepte zu ebnen. Ich bin kein Wissenschaftler, mir fehlt selbst das Wissen und die Hochschulbildung, um mich wissenschaftlich fundiert mit solchen Konzepten zu befassen. Dies sind nur Gedanken, die mir angesichts eines sehr interessanten Meinungsaustausches auf Zeit Online in den Sinn gekommen sind.
Inspirationen und Lesetipps:
Thomas Assheuer: Die Moderne ist vorbei
Armin Nassehi: Postdemokratie: Das goldene Zeitalter ist vorbei