Gestorben: Die Occupy-Bewegung

Eine Bemerkung vorab: Der folgende Beitrag ist eine persönliche Wahrnehmung und erhebt ausdrücklich nicht den Anspruch auf Wahrheit oder gar Wahrhaftigkeit.

Heute vor einem Jahr war der Bundesweite Protesttag der Occupy-Bewegung. Die aus Spanien, über Israel und die USA nach Mitteleuropa eingewanderte neue politische Denk- und Handlungsweise, der Kampf der 99 % gegen hemmungslosen Kapitalismus und Bankenkriminalität ist ein Jahr später nur noch eine Erinnerung.

Natürlich wird es überall in Deutschland Aktivisten geben, die der Meinung sind, dass Occupy das Jahr überlebt hat. Vermutlich deshalb, weil es noch Organisationstreffen, Aktionskreise und Diskussionszirkel gibt. doch wie sieht das die große Masse des Volkes, für die Occupy doch einmal einen neuen Aufbruch verheißen hat? Nimmt man die Bewegung überhaupt noch wahr?

Ich selbst höre nur noch etwas, wenn mal wieder eines der verbliebenen Camps geräumt werden soll. Gegen den Stabilitätspakt hätte Occupy vielleicht eine Chance des Wiedererwachens gehabt, aber die Zeit verstrich, und nichts geschah. Für mich, in meiner Wahrnehmung, ist die Bewegung tot.

Und das ist schade, kamen doch gerade aus der Ecke von „echte Demokratie jetzt“ ein paar bemerkenswerte Ansätze über eine neue Art politischer Diskussion und politischer Auseinandersetzung. In der Bewegung wurde mit megafonlosen Versammlungen experimentiert, mit Basisdemokratie härtester Form. Zwar waren auch hier oft die immer gleichen „Berufsaktivisten“ versammelt, aber endlich bekam eine Bewegung mal wieder etwas Schwung, den ich seit der Friedensbewegung zu Beginn der achtziger Jahre nicht mehr erlebte. Doch ach: Schnell löste sich die Volksbewegung in einen medialen und gerichtlichen Nachhall auf. War sie nur deshalb in Deutschland so groß geworden, weil sie für eine Weile von den Medien hofiert wurde? Geht die Macht der Sensationspresse, der Springers und der anderen privaten Medienriesen so weit, dass sie uns sogar für eine kurze Zeit eine sogenannte Volksbewegung aufs Auge drücken und uns gleichzeitig glauben lassen können, sie wäre im Netz entstanden? Im Internet geboren gewissermaßen?

Warum eigentlich gehen in anderen Ländern so viele Menschen immer noch auf die Straße? Geht es uns zu gut? In Spanien reißen die Proteste nicht ab, und in den USA ist es erst ruhig geworden, als die Konjunkturdaten sich erheblich beruhigten und der Wahlkampf begann. Gebe ich mir damit die Antwort schon selbst? Sind wir in Deutschland nicht oder nicht mehr in der Lage, für unsere Belange zu streiten, zu demonstrieren, zu schreiben, zu reden, zu singen?

2012 sollte das Jahr der Freidenker werden, hatte einer der hoffnungsfrohen Aktivisten zu Beginn des Jahres gesagt. Geblieben ist eine Luftblase und ein schales Gefühl. Daran sind aber nicht die Aktivisten schuld, die immer noch Aktivisten sind. Aber sie vermögen viele von uns nicht aus unserer Trägheit zu reißen. Es sind genug Alltagssorgen da, und nützen tut es ja ohnehin nichts, sagt man sich vielleicht.

Bin ich selbst mitschuld? Habe ich Menschen mit meinen Artikeln über den Verlust von Demokratie mutlos gemacht, anstatt sie zu irgendeiner Form des Widerstandes aufzurufen? Oder, frage ich mich beruhigend: Bin ich so wichtig nicht im weltweiten Netz, dass ich mir diesen Vorwurf machen müsste?

„Und wo warst du im Krieg, Papi?“ – Wenn man mir diese Frage stellt, was werde ich antworten? Werde ich, wie Volker Pispers vorschlägt, meinen Karton mit Kabaretteintrittskarten parat haben und sagen können: „Moment, ich war im Widerstand?“ Werden wir nicht alle eines Tages jammern, dass wir früher hätten aufstehen müssen? Werden wir nicht sagen: „Das konnten wir ja nicht ahnen!“ Und das, obwohl wir es hätten wissen können?

Niemand muss sich wundern, warum es in Deutschland keine Revolution gibt. Die Herrschenden haben gelernt. Man kann Demokratie abbauen und durch eine autoritäre Herrschaft im demokratischen Mantel ersetzen, man kann ungehemmt dem Kapitalismus huldigen und mehr davon wagen, ungestraft. Autoritäre Herrschaft und kapitalistische Wirtschaft könnte entgegen der wissenschaftlich formulierten Thesen von Karl Marx das Regierungssystem der Zukunft sein, habe ich heute in einem guten Artikel bei Telepolis gelesen. Wenn das stimmt, dann erklärt sich das Scheitern von Occupy einfach: Man muss sie nicht verbieten, sie läuft sich tot, denn den Menschen geht es trotz vielen Jammerns gerade noch zu gut für echtes Aufbegehren, und Regierung wie Kapital wissen dies auch ganz genau.

Ein Freund prophezeite vor Jahren schon das nahende Ende des Neoliberalismus. Ich fürchte, das Gegenteil ist der Fall. Trotz mancher Voraussagen sogar von ernstzunehmenden Wirtschaftswissenschaftlern ist auch das Geldsystem im letzten Jahr nicht zusammengebrochen. Gestorben ist hingegen die Occupy-Bewegung. Sie ruhe in Frieden und hinterlasse uns ein paar Ideen für einen zukünftigen politischen Diskurs.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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2 Antworten zu Gestorben: Die Occupy-Bewegung

  1. Marco Zehe sagt:

    Hallo Jens!

    Ich denke, dass die Occupy-Bewegung zu schnell den echten Focus verloren hat. Sie war bald überall nur noch präsent als die Camps, die nicht nur denen, die sie betrafen, sondern allen möglichen, auch am Finanzsystem nicht direkt beteiligten, Leuten im Weg waren. Wenn etwas einen tagtäglich beim nachgehen der Arbeit behindert, wird es schnell lästig, und das schafft auch entgegen eigener Überzeugungen eine ablehnende Haltung.

    Außerdem ist das Problem mit Camps ja immer, dass man Menschen braucht, die genug Zeit und Geld haben, es aufrecht zu erhalten, es durch ihre Anwesenheit am Laufen zu halten usw. Das schließt von vornherein die in regulären Arbeitsverhältnissen stehende Bevölkerung aus. Die können sich nicht wochen- oder monatelang in ein Occupy-Camp begeben, denn sie müssen ihrer Arbeit nachgehen, ihre Familie ernähren.

    Und die nicht in regulären Arbeitsverhältnissen stehende Bevölkerung ist entweder alt, lethargisch, nicht interessiert, schulpflichtiges Kind usw. Diejenigen, die übrig bleiben, sind zu wenige, um die Bewegung mit Schwung am Laufen zu halten. Denn bei solchen zielen braucht man einen steten Tropfen, der einen Stein höhlt, nicht eine einmalige Demonstration, deren Botschaften zwar medial aufgegriffen und auch transportiert werden, aber in der Nachrichtenflut auch schnell wieder in Vergessenheit geraten.

    Die Friedensbewegung der frühen 80er Jahre, an der auch ich als damals 10-jähriger Junge teilnahm, war eine Reaktion auf die Bedrohung des eigenen Lebens. Kriegsveteranen waren allgegenwärtig, die Flut der Nachrichten nicht so groß wie heute, so dass Bilder von z. B. Opfern des Vietnamkriegs viel eindrucksvoller gewirkt haben. Ja, auch die Abstumpfung vieler durch eine zu große Flut an schrecklichen Bildern ist ein Teil des Problems, denke ich.

    Und weiterhin ist der Kapitalismus für viele so abstrakt, dass die Geschehnisse auf Kriegsschauplätzen damit gar nicht in Verbindung gebracht werden. Die Themen sind zu komplex. Und ja, ich denke auch für viele hat die Eurokrise bei uns keine so nennenswerten Auswirkungen, selbst dann nicht, wenn die Regierung dermaßene Summen für den ESM bereitstellt, dass eine nachhaltige Protestmentalität geschaffen wird. Ganz im Gegensatz zu Griechenland und Spanien. Spanien hat eh mit einer Arbeitslosigkeit von 25% zu kämpfen, und zwar landesweit, und da ist jeder Sozialabbau, jede Sparmaßnahme, die potentiell weitere Jobs gefährden könnte, ein Angriff gegen die Substanz. nicht so lebensbedrohlich wie Atomraketen, aber doch bedrohlich genug.

  2. Thorn sagt:

    Gewisse „boese“ Zungen haben schon in den Anfaengen von Occupy den Gedanken
    geaeussert, dass das alles kuenstlich ist um die Wut der Leute zu kanalisieren
    und sie, die Wut, schliesslich verpuffen zu lassen.
    Die Friedensbewegung scheint heute auch nicht mehr benoetigt zu werden,
    bis auf weiteres.
    Also die Wollpullis und Wandergitarren nicht wegschmeissen.
    Die werden morgen vielleicht wieder gebraucht.
    Und natuerlich sollte man immer einen gesunden Vorrat
    Kerzen zuhause haben, falls mal wieder eine Lichterkette
    angesagt ist.
    Ganz ohne Zynismus:
    Momento… mal schauen…
    Na, die beste Qualitaet, die unzensiert zu kriegen ist und
    was seinerzeit rauf und runter gespielt wurde,
    aber heute seltsamer Weise sowas von nie von zu hoeren ist.
    Und niemand laedt es *scheinbar* auf YouTube!
    Georg Danzer – Frieden
    http://www.youtube.com/watch?v=eROaY8tyDtM
    Ned nur I hab so a Angst
    ned nur I hab so an Haß auf Euch
    die ihr uns regiert’s
    tyrannisiert’s
    in Kriege führt’s
    wir san nur Dreck für Euch.
    Vier Milliarden Menschen
    vier Milliarden Träume
    über die ihr lacht’s. Vier Milliarden Hoffnungen
    die ihr mit einem Schlagzunichte macht’s.
    Und ihr baut’s Raketen und Atomkraftwerke
    und dann Bunker – wo ihr Euch versteckt’s.
    Aber diesmal
    meine Herren
    könnt’s Euch sicher sein
    daß ihr mit uns verreckt’s.
    Vier Milliarden Leben
    vier Milliarden Tode
    doch des is euch gleich.
    Hört’s ihr Wissenschaftler
    ihr Politiker
    ihr Mächtigen
    wir fordern jetzt von Euch:
    Gebt’s uns endlich Frieden …
    gebt’s uns endlich Frieden für die Welt !
    Gebt’s uns endlich Frieden

    Gebt’s uns endlich Frieden
    wir woll’n inx als Frieden
    Frieden für die Welt !
    Am Himmel steht die Sonn
    die Kinder spiel’n im Park
    und es is Frieden. – I sitz auf ana Bank
    die Blumen blühn im Gras
    und es is Frieden.
    I hab die Menschen gern
    I steh auf meine Freund
    und es is Frieden. – Ka Hunger und ka Haß
    ka Habgier und ka Neid
    und es is Frieden.
    Ka Führer und ka Staat
    ka Ideologie
    und es is Frieden.
    Ka Mißgunst und ka Angst
    und Gott statt Religion
    und dann is Frieden. – Ka Macht für niemand mehr
    und niemand an die Macht
    und es is Frieden.
    Ka oben und ka unt
    dann is die Welt erst rund
    und es is Frieden.
    Gebt’s uns endlich Frieden

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