In all den Jahren hat mich der Prozess um Jörg Kachelmann nie interessiert: Der Schmutz, das Theater, die gegenseitige Niedertracht, die ständig in den Medien zu lesen war, das alles war und ist mir höchst zuwider. Aber über das Unwort des Jahres 2012 möchte ich schon ein paar Zeilen verlieren.
Seit gestern wissen wir: Das Unwort des Jahres 2012 ist „Opfer-Abo“. Es stammt von Jörg Kachelmann, deutschlands bekanntestem Meteorologen und, nach eigenen Aussagen, Justizopfer, obwohl er ja Recht bekommen hat und vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen wurde. In einem Spiegelgespräch im Herbst 2012 sagte Kachelmann: „Das ist das Opfer-Abo, das Frauen haben. Frauen sind immer Opfer, selbst wenn sie Täterinnen wurden. Menschen können aber auch genuin böse sein, auch wenn sie weiblich sind.“ Und etwas später: „für Frauen sind Verleumdungen heute eine beliebte und effektive Waffe geworden.“ Und Frau Kachelmann sekundierte: „Mit Missbrauchsvorwürfen kann ich mich sehr einfach an Chefs oder Lebenspartnern rächen. Und ich kann problemlos das Sorgerecht für meine Kinder erstreiten. Selbst wenn sich die Vorwürfe nie erhärten lassen – als Mann kommen Sie dagegen nicht an. Die Zweifel bleiben. Richter verurteilen lieber mal einen Unschuldigen, als sich sagen lassen zu müssen, dass einem vermeintlichen Opfer keine Gerechtigkeit widerfuhr.“ Und über die Unterstützung, die der Klägerin im Kachelmann-Prozess zuteil wurde, sagte Miriam Kachelmann: „Es gibt eine Opferindustrie, die in dieser kranken Form endlich wegmuss.“
Ich schreibe dies, um den Zusammenhang zu erläutern, in dem der Satz vom „Opfer-Abo“ stand, als Herr Kachelmann, der ihn übrigens auf Twitter jetzt seiner Frau unterschiebt, ihn aussprach. Die aus 4 Sprachwissenschaftlern und einem Journalisten bestehende Jury zur Wahl des Unwortes des Jahres kannte diesen Kontext natürlich und begründete ihre Entscheidung mit den Worten: „Das Wort „Opfer-Abo“ stellt in diesem Zusammenhang Frauen pauschal und in inakzeptabler Weise unter den Verdacht, sexuelle Gewalt zu erfinden und somit selbst Täterinnen zu sein. Das hält die Jury angesichts des dramatischen Tatbestands, dass nur 5-8 % der von sexueller Gewalt betroffenen Frauen tatsächlich die Polizei einschalten und dass es dabei nur bei 3-4 % der Fällen zu einer Anzeige und einem Gerichts-verfahren kommt, für sachlich grob unangemessen. Das Wort verstößt damit nicht zuletzt auch gegen die Menschenwürde der tatsächlichen Opfer.“
Besser kann man es nicht ausdrücken: „Opfer-Abo“ sagt meiner Ansicht nach wenig über den Fall Kachelmann selbst aus, und der interessiert in diesem Zusammenhang auch überhaupt nicht. Ob Herr Kachelmann nun seine ehemalige Lebensgefährtin vergewaltigt hat oder nicht, das kann man wohl nicht mehr mit Gewissheit ermitteln. Im Rechtsstaat bedeutet dies, dass der Angeklagte freizusprechen ist. Das ist richtig und gut so.
Die eigentliche Bedeutung des letztjährigen Unwortes liegt in einer gesellschaftlichen Tendenz, die viele nicht sehen wollen oder können. In den letzten Jahrzehnten haben Frauen es mühsam und gegen teils erhebliche Widerstände geschafft, das Image der ewig Schuldigen in Sexualstrafsachen abzustreifen. Es liegt heute nicht mehr automatisch ein sittliches Fehlverhalten der Frau vor, wenn eine Vergewaltigung vor Gericht verhandelt wird. Sie ist nicht mehr gewohnheitsmäßig selbst schuld, weil sie sich aufreizend kleidet, kokettiert oder Lust am Flirt oder gar sexuelle Spielfreude ausdrückt. Ein wenig mehr ist das Auge der Justiz in den letzten Jahrzehnten geschärft worden für das Thema des sexuellen Missbrauchs an Frauen und Mädchen. Für manche Männer ist das aber offenbar bereits zu viel. Unter dem Deckmantel der Verteidigung von Männerrechten wird dort scheinbar eine Art Patriarchat neuen Typs angestrebt. Wenn man also heute eine Frau nicht mehr einfach durch Schuldzuweisungen einschüchtern und eine Vergewaltigung bagatellisieren kann, dann muss man eben zu anderen Mitteln greifen. Was liegt da näher, als den Frauen vorzuwerfen, Vergewaltigungsvorwürfe zu erfinden. Und gleichzeitig wird der Justiz unterstellt, auf dem weiblichen Auge blind zu sein. In diesem Zusammenhang ist das Wort „Opfer-Abo“ als Unwort des Jahres 2012 besser gewählt, als ich anfangs dachte. Jörg und Miriam Kachelmann werden so zu Sprechern einer meiner Meinung nach größer werdenden Gruppe von Menschen, die Frauen allgemein und nicht nur im Einzelfall beschuldigen, mit böser Absicht und dem Mittel erfundener Sexualdelikte Männer zu verunglimpfen, die keine Chance haben, sich dagegen zu wehren. Dies geschehe häufig im Arbeits- und Familienbereich, sagte Frau Kachelmann gegenüber dem Spiegel sinngemäß.
Es ist keine Frage, dass es solche Fälle gibt. Mich würde nicht wundern, wenn eine RTL-Gerichtsshow schon mal eine naive Frau auf die Idee gebracht hat, Publicity und Karriere mit Hilfe einer Falschaussage zu fördern. Außerdem gibt es in allen Geschlechtern Kriminelle. Aber nach meiner Ansicht ist das weder ein Trend noch eine Massenerscheinung mit Massenindustrie. Diese pauschalisierende Verleumdung, der Generalangriff gegen die Würde von Frauen, die neben der sexuellen Gewalt dann auch noch die gesellschaftliche Ächtung ertragen müssen, dies macht das Wort vom „Opfer-Abo“ der Frauen so infam.
Es stimmt, dass dieses Unwort bislang weithin unbekannt war, aber nach den Regeln der Kommission, die das Unwort wählt, geht es auch nicht so sehr um den Bekanntheitsgrad des Wortes, sondern um ein Beispiel, wie mit Sprache in negativer Weise umgegangen wird. Das Unwort des Jahres verstößt gegen die Menschenwürde, und dieses Kriterium erfüllt „Opfer-Abo“ ohne Zweifel. Es könnte das Verdienst der Sprachwissenschaftler werden, eine gesellschaftliche Diskussion über die Thesen jener Gruppe zu initiieren, die das Wort vom „Opfer-Abo“ repräsentiert. Dann wäre ich mit der Wahl des Unwortes für das Jahr 2012 sehr zufrieden.