Ich rieche noch das Feuer, ich höre noch das Lied

Jedes Jahr am 4. April erinnere ich mich, dann fühle ich, wie tief meine Wahlheimat in meinem Herzen ist. Dann weiß ich, dass eine Heimat nicht zwangsläufig der Ort ist, oder nicht nur der Ort ist, an dem man geboren wird.

Ich rieche noch das Feuer, ich höre noch das Lied, ich sehe noch die Freunde um den Tisch sitzen, kann ihr Lachen und ihre Stimmen noch hören. Abends auf der Terrasse unseres Hauses am See auf dem niederländischen Campingplatz Heelderpeel. Einer der vielen Sommerabende stteht mir vor Augen, Ohren und Nase.

Noch heute, wenn ich einmal im Jahr als Gast über den Platz gehe, fühle ich den Sand des Weges unter meinen Füßen, kenne ich jede Erhebung, weiß ich, wo kleine Sandhügel sind, wo Sträucher stehen, hinter welchem Zaun welche Hunde bellen. Schlendere ich abends, wenn es dunkel wird, die Wege entlang, rieche ich die kleinen Feuer, den Grill, das Fleisch, ich höre Lachen, Würfelspiel und Singen. Am Tag läuft ein Radio, am frühen Morgen deckt jemand fröhlich den Frühstückstisch. Bei warmem Wetter draußen vor dem Haus. Geh ich wieder die Wege durch die Felder, dann höre ich die Melkmaschine, den Rasensprenger der Bauern, ab und an knallt die Vogelscheuche auf dem Feld, die längst keine Vögel mehr verscheucht, ab und an trabt ein Pferd den Weg entlang. Die Kühe muhen, ein Traktor fährt über die Felder, es duftet, und die Sonne steht über den Feldern und wird vom Wald verborgen, wo der Schatten ist. Auf der Treppe vor dem Büro ist einer der romantischsten Plätze meines Lebens. Menschen flanieren in der Dämmerung vorbei und grüßen freundlich.

Ich höre noch die Räder, mit denen die Kinder zum Bauern fahren, um Milch, Kartoffeln, Gurken und Eier zu kaufen. Der Papagei unseres Nachbarn immitiert die Amsel und weckt mich. Ich höre noch meinen Vater, der vor der Tür den Frühstückstisch deckt, während ein Eichhörnchen aufs Dach springt und nach der Nuss jagt. Ich laufe noch mit meinen Freunden durch den Wald, sitze auf einem Hochsitz und philosophiere mit ihnen. Ich höre noch das Klatschen der Menschen, als ich bei einer Talentenjagd mit meinem Keyboard einen Preis gewinne.

24 Jahre lang war ich dort zu hause. Schon, als ich ausstieg, am ersten Tag, als wir Freunde besuchten, nahm mich der Ort gefangen. Die Frösche, die im See quakten, die Kinder, die dort spielten, die Enten, die uns umlagerten, die es auf das Brot in unserer Tüte abgesehen hatten und von einer Gans angeführt wurden. Ich sehe mich noch selbst mit den Freunden in einem Schlauchboot über den See fahren, und höre, wie die Kinder hinter unserem Haus im See plantschen und spielen. 24 Jahre lang war dies normal für mich, selbstverständlich. Nachts im Bett zu liegen und den Regen auf das Dach trommeln zu hören und zu wissen, wie geborgen und sicher ich bin, ohne darüber nachzudenken. Nicht nur in den Ferien war es so, an jedem Wochenende, nach der Schule manchmal monatelang. Es gab Jahre, in denen ich fast die Hälfte der Zeit dort verbrachte.

Aber als meine Eltern tot waren, und als das Haus zu verfallen begann, hatten wir keinen mehr, der uns half, es zu erhalten, und kein Geld mehr, es reparieren zu lassen. Wir mussten gehen.

Jetzt fahren wir noch ein oder zweimal im Jahr für ein paar Wochen hin, als Gäste, aber es ist immer und immer wieder wie eine Heimkehr. Ich werde niemals aufhören, diesen Ort zu lieben, niemals aufhören, ihn als meine Heimat zu betrachten, solange er dem ähnlich ist, was ich kenne und liebe.

Heute vor 31 Jahren kamen wir dorthin, und schon in wenigen Wochen werden wir wieder dort sein.

 

Ein Feiertag meines Lebens

Der letzte Spaziergang

Der erste Spaziergang

Mein Freund der Kühlschrank

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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2 Antworten zu Ich rieche noch das Feuer, ich höre noch das Lied

  1. Lieber Jens,
    Du hast Deine Erinnerungen und Empfindungen zu einer wunderschönen und berührenden „Liebeserklärung“ an Deine holländische „Heimat“ verarbeitet. Es ist Dir in sehr beeindruckender Weise gelungen, all Deine Empfindungen plastisch auszumalen und dabei Deine Gefühle wachwerden zu lassen.
    Dafür verdienst Du Dank und Respekt.
    Mach weiter so!
    fjh

  2. Leo sagt:

    Eine wunderschöne, rührende Erinnerung an deiner holländischen „Heimat“.
    Danke Jens.

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