Am 30. April 2013 tritt die niederländische Königin Beatrix ab. Ihr Sohn, Kronprinz Willem-Alexander, wird ihr Nachfolger. Aus diesem Anlass berichtet das Wa(H)renhaus in den nächsten Tagen über dieses Ereignis, über Sinn und Widersinn der Monarchie in der modernen Zeit, über Bundespräsidenten und Parlamentseide, aber auch über Stars, Sternchen, Lieder, Kleider und Lobeshymnen. Vor allem aber über die Niederlande.
Manchmal sind meine lieben Niederländer echt putzig, erst ganz naiv, dann wüst und wild, dann wieder voller Patriotismus und Geschrei. In den letzten Tagen hat sich um das sogenannte Königslied eine unglaubliche Posse abgespielt, von der ich immer noch nicht weiß, ob sie denn nun eigentlich beendet ist oder nicht. Wir Deutschen hätten uns in Grund und Boden geschämt, auch die Niederländer sind nicht glücklich damit, aber sie managen die Krise, eine Woche vor der großen Krönungsfeier. – Und das ging so:
Die „Nationale Kommission für die Amtseinführung“, das Festkomitee sozusagen, hatte im März eine spannende Idee. Sie wollte erreichen, dass alle Niederländer am 30. April dem neuen König und seiner Gemahlin gemeinsam ein Lied singen, überall in Stadt und Land, auf den Schiffen, in den Flugzeugen, im Bad, am Arbeitsplatz, beim Abendbrot, vor dem Fernseher, im Bett oder wo auch immer man sich zu dieser Zeit aufhielte. Um 19:30 Uhr am Krönungsabend sollte in Rotterdam eine große Anzahl von Künstlerinnen und Künstlern dieses Lied anstimmen, das über alle Fernsehkanäle und Public-Viewing-Schirme im ganzen Land zu hören sein sollte. Zu diesem Zweck komponierte der niederländisch-britische Komponist John Ewbank ein Lied, das verschiedene landesübliche Musikstile enthalten und von Künstlerinnen und Künstlern aus allen Teilen des Königreichs eingesungen werden sollte. Der Text sollte zumindest teilweise aus den Wünschen und Träumen der Niederländer bestehen. Die hatten nämlich vom 2. bis zum 9. April die Möglichkeit, über eine Internetseite ihren „Traum für die Niederlande“ einzureichen, Ideen für den Text des Königsliedes. Eine schöne Idee von Gemeinsamkeit, dachten wohl auch knapp 3500 Menschen und beteiligten sich an der Aktion. Vom Pop- und Familiensender Radio 2 wurde die Entstehung des Stücks mit täglich neuen Infos und Ankündigungen begleitet. Zum Herold des Liedes avancierte der landesweit bekannte und beliebte Radiomoderator Frits Spits, der seit über 40 Jahren im Radiogeschäft ist und immer noch maßgeblichen Einfluss auf die niederländische Popkultur hat.
Am 16. April um 08:30 Uhr wurde das neue Königslied auf nahezu allen Radiosendern des Landes erstmals gespielt, von nun an sollten die Niederländer es lernen können, um es am 30. April gemeinsam singen zu können. Der Sender Radio 2 veröffentlichte sogar eine Königslied-App, damit niemand den genauen Termin der Ausstrahlung am Krönungsabend verpasst. Als ich das Lied am Freitagmorgen erstmals hörte, gefiel es mir auf Anhieb. Dabei hatte ich kaum auf den Text geachtet, aber die Mischung aus langsamer, feierlicher Popmusik mit Klassikelementen, einem Rap-Teil und einem Teil mit karibischer Musik fand ich sehr gelungen. In den ersten Minuten überwogen die positiven Reaktionen in den sozialen Netzwerken, aber nach ungefähr 20 Minuten brach ein Sturm der Entrüstung los. Komponist John Ewbank und seine Texter, allesamt große niederländische Künstler wie Marco Borsato oder lange Frans, wurden mit Hohn und Unflätigkeiten übergossen, wie ich sie selten gehört habe, auch nicht in den durchaus ausdrucksstark streitenden Niederlanden. Grund für diese massive Kritik war neben einigen grammatischen Ungenauigkeiten, die wegen notwendiger Reime entstanden, wohl vor allem der Text des Liedes. Er wurde als schwülstig, unangemessen und nichtssagend bezeichnet, und da mag ein wenig dran sein, obwohl sich über Geschmack nicht streiten lässt. Das Lied beginnt mit den Worten: „Da stehst du nun. Du hast diesen Augenblick schon so oft in deinen Träumen gesehen, und jetzt ist es so weit. Der Tag von dem du wusstest, dass er irgendwann kommen würde, ist nun endlich da. Bist du bereit? Kannst du das überhaupt jemals wirklich sein? Jeder Mensch hat eine Aufgabe in diesem Leben, du hast alles getan, dich vorzubereiten, du versprichst, dass du alles geben wirst. Jeder Schritt den du getan hast führte unweigerlich hier her. Und schau dich um, wir gehen mit dir mit.“ Dann wechselt die Perspektive offenbar auf den König selbst. Der Text geht weiter: „Bei Regen und Wind werde ich neben dir stehen, dich beschützen vor allem, was kommen mag. Ich werde wachen, wenn du schläfst, ich behüte dich vor dem Sturm, ich halte dich sicher, so lange ich lebe.“ Dann wechselt das Lied zum Rap und fährt unter Anderem fort: „Ein Kampf, zwei Leben, wir halten unverbrüchlich zusammen. Eine Flagge, zwei Löwen, miteinander durch Sonne und Regen. Seite an Seite, die Brust vorgereckt, stolz wie ein Pfau, und dies ist unser Lied. Und so klein wir auch sind, unsere Taten sind groß, wir lassen uns nicht unterkriegen. Für dich, mein Kind, für Vater und Mutter, ich laufe für dich durch Wind und Regen und stehe immer hinter dir. Ich trage eine Standarte mit deinem Namen und ich glaube an dich solange wir leben. Mit meinen bloßen Händen baue ich einen Deich und halte das Wasser von dir fern.“ Zusammenhalt, Wasser und Familie waren Anliegen, die aus der Bevölkerung an die Komponisten und Texter herangetragen wurden. Danach wechselt das Lied in den klassisch-feierlichen Teil zurück. Der Text geht weiter mit den Worten: „Sag mir, was du träumst, wonach dein Herz verlangt. Ich werde nicht ruhen bis es wahr geworden ist. Und wenn du je deinen Weg verlierst werde ich dein Leuchtturm sein und dir durch die Finsternis den Weg zum Hafen weisen. Ich werde kämpfen wie ein Löwe, bis es dir an nichts mehr fehlt. Ich halte dich sicher, so lange ich lebe.“ Auch der Löwe als nationales Symbol der Niederlande war ein Wunsch aus der Bevölkerung. Schließlich kommt der karibische Teil, der Teil, der aufrütteln soll. Er lautet: „Das „W“ von Willem, drei Finger in die Luft! Das „w“ von Willem ist das „W“ von „Wir“, ganz Oranien (oder das ganze Land) steht Seite an Seite, das „W“ von „Wasser“, vor dem wir nicht weichen, wir legen es trocken und wir bauen Deiche. Das „W“ von „Willkommen in unserer Mitte, zu welchem Gott du auch beten magst“. Das „W vom „Willen“ zu gewinnen, was auch immer wir beginnen…“
Man mag das Lied übertrieben finden, aber sie haben sich etwas dabei gedacht, die Textter und auch die ausführenden Künstler. Der Shitstorm, wie man die unflätige Überschüttung von Menschen und Werken mit Hohn und Spott heute nennt, war gewaltig. Binnen 36 Stunden zeichneten über 30.000 Menschen eine Petition gegen das Lied. Um prozentual in Deutschland eine ähnliche Beteiligung zu erreichen hätten im selben Zeitraum über 150.000 Menschen mitzeichnen müssen. Eine Welle der Verachtung traf auch den Komponisten selbst, dessen Facebook- und Twitteraccounts vor Schmähungen überliefen.
Während das offizielle Königslied mit Verachtung bedacht wurde, kam ein recht witziges kleines Stück, das von zwei Studenten in den letzten Tagen geschrieben und aufgenommen worden war, wohl sehr gut an. „Willem, du bist doch ein König, der Boss von allen. Wenn du dich fragst, ob du es tun solltest, dann denk mal drüber nach. Du hast eine tolle Frau, du bist schon jetzt eine lebende Legende, also wenn ich König wäre, wüsste ich, was ich täte.“ So ungefähr zusammengefasst die Botschaft. Locker, musikalisch gut gemacht und ein bisschen ironisch trifft es offenbar mehr den Zeitgeist als das offizielle, feierliche Musikstück, dem man unerträgliche Lobhudelei vorwarf. Außerdem wurde behauptet, die Melodie sei zumindest teilweise vom britischen Gospelsänger Matt Redman und seinem Lied „10.000 reasons“ abgekupfert worden.
Am Samstagabend hatte John Ewbank genug. Nachdem auch eine Facebook-Seite mit dem Titel „Wir entschuldigen uns für das Königslied“ über 60.000 Gefällt-Mir-Bestätigungen erhalten hatte, gab der Komponist öffentlich bekannt, das Königslied zurückzuziehen. Im ganzen Land reagierte man mit Erleichterung und Verständnis, manche Künstlerinnen und Künstler waren auch persönlich beschimpft worden. Das Festkomitee kündigte für Montag eine Entscheidung darüber an, ob es einen Ersatz für das Stück geben würde. Endlich meldeten sich auch Stimmen zu Wort, und zwar nicht nur in der Politik oder im Komitee, sondern auch von den Kritikern des Liedes, die die Verunglimpfungen von Personen und deren Absichten scharf kritisierten. Frits Spits, der „Herold des Königsliedes“, wie er von Kollegen und Bewunderern genannt wird, erklärte, er werde aus Protest gegen den Shitstorm keine weitere Sendung des Oranjejournaals auf Radio 2 mehr präsentieren, in der er dreimal am Tag über die Vorbereitungen zur Amtseinführung berichtete. Vermutlich ernüchterte diese Ankündigung viele Gemüter.
Den Montag über tagte das Festkomitee, und Prinz Willem-Alexander, der künftige König, zeigte sich betroffen über die Aufregung, die über ein Lied entstanden sei, das doch eigentlich verbinden sollte. Vielleicht wird es das auch noch, weil es einen Shitstorm überlebte, eine brutale Ablehnung der sogenannten „Generation Internet“. Denn am Montagabend teilte das Festkomitee mit, dass es an dem Lied festhalte, nachdem es sich mit John Ewbank und den anderen Beteiligten beraten hatte. Nach bekanntwerden dieser Meldung zog auch Frits Spits seine Entscheidung zurück, das Oranjejournaal nicht mehr zu moderieren. Nun wird also das Königslied wohl doch am 30. April gespielt werden, und wer weiß: Vielleicht werden die meisten Niederländer in einem halben Jahr sagen: „Jawohl, das ist unser Königslied, trotz des Sturms, des Windes und des Regens. Da gingen wir gemeinsam durch.“
Das macht mich ehrlich gesagt richtig traurig. diese verdammten Shitstorms werden irgendwann noch jede vernünftige Art der Diskussion zerstören und auch das Engagement von leuten, die sich solch einem Dreck nicht mehr aussetzen mögen. Ganz gleich, wie das Lied ist, und so schlecht finde ich es auch nicht -: Es ist schade, daß auch in den Niederlanden diese bescheuerte Art der Auseinandersetzung so nachhaltig angekommen ist… Ich freu mich trotzdem auf den 30. April!
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