Computer erleichtern unser Leben, sagt man, und soziale Netzwerke helfen uns bei der Kontaktpflege und der Nachrichtenübermittlung. Wie haben wir das bloß alle gemacht, als es noch kein Internet gab? Zum Beispiel mit dem Telefon. Ein pfiffiger Betreiber hat jetzt das erste soziale Netzwerk via Telefon aufgebaut, und „Das Dorf“, wie es sich nennt, erfreut sich großer Beliebtheit. Seit ein paar Tagen bin auch ich Bewohner des weltweiten und doch kleinen Dörfchens.
Vor 20 Jahren habe ich es erstmals probiert: Ich zog in die sogenannte Villa ein, ein Telefon-Chat-System aus Hamburg, das über eine 0190-Nummer lief. Es war eine große Katastrophe. Zwar war die Atmosphäre der einzelnen Räume interessant gestaltet, und das war es auch, was die Leute zunächst in der Villa hielt, aber eine echte Konferenzschaltung war nicht möglich, man musste hintereinander sprechen, die Nachrichten wurden hintereinander abgespielt. Mit 10 Leuten im selben Raum dauerte eine Unterhaltung unerträglich lange, und zusätzlich kostete sie unerträglich viel Geld. In einer solchen, künstlichen Situation konnte man sich auch nur über Belanglosigkeiten unterhalten, ein Gesprächsfluss kam selten auf. Viele meistens einsame Menschen verbrachten so viel Zeit in der Villa, dass sie hunderte und zum Teil tausende von D-Mark ausgaben, um dort ein wenig Gesellschaft und Zuspruch zu erhalten. Ich gehörte selbst eine Weile dazu, und danach habe ich mir geschworen, von Telefon-Chat-Systemen die Finger zu lassen. Bis letzte Woche habe ich mich daran gehalten.
Der Ohrfunk war es nun, der mich auf „Das Dorf“ aufmerksam machte. Der Betreiber, Thomas Höllrigel, hat es sich zum Ziel gesetzt, ein telefonisches soziales Netzwerk zu schaffen. Im Prinzip handelt es sich um rund 10 öffentliche Räume, in denen man sich aufhalten kann, in denen es auch Veranstaltungen geben kann, und in denen man miteinander plaudern kann. Diese 10 Räume haben unterschiedliche Namen wie Kirche, Kino, Friedhof oder Bauernhof, aber das dient lediglich der Atmosphäre und hat nur in wenigen Fällen eine Bedeutung. In der Kirche findet in der Woche jeden Morgen eine gemeinsame Andacht statt, die von einem evangelischen Pfarrer aus Nordrhein-Westfalen geleitet wird, und im Kino werden die Hörerhitparaden des Internet-Radiosenders 1ted Finest übertragen. Das ist vor allem für Menschen interessant, die eben selbst keinen Computer und kein Internet haben und sich ansonsten an der Hörerhitparade nicht beteiligen könnten.
Herzstück des Netzwerkes sind aber die rund 50 Foren zu allen Themen, die man sich vorstellen kann. Familie, Gesundheit, Mystic, Religion, Musik, Instrumentenbau, Computer, Heimwerker, Rollenspiele, Hörspiele und Hörbücher, Fernsehen, Quizshows, Politik und Geschichte, Philosophie, Elternschaft und Behinderung sind nur einige der Themen, die man dort finden und über die man debattieren kann. Im Gegensatz zu vielen anderen Telefonlines herrscht im Dorf ein allermeistens respektvoller und friedlicher Umgang. Der Betreiber, der sich selbst als Bürgermeister unters Volk mischt, versucht bislang erfolgreich, große Streitigkeiten aus dem Dorf heraus zu halten.
Außerdem ist das Ganze ein inklusives Projekt. Es sind viele blinde und sehbehinderte Menschen dabei, aber auch Menschen ohne Behinderungen verirren sich ins Dorf und bleiben dort.
Gegenüber den alten Lines, die ich vor 20 Jahren kennenlernte, hat das Dorf mehrere Vorteile. Erstens kostet es nichts, wenn man eine Flatrate oder Skype hat. Zweitens ist Konferenzschaltung inzwischen erlaubt, und man kann sich tatsächlich mit mehreren Menschen unterhalten. Und drittens wird hier auf einem von mir bislang nie erlebten Niveau debattiert und auch gestritten. Während ich oft das Gefühl habe, dass ich meine Artikel im Blog für fast niemanden schreibe, weil es praktisch keine Resonanz gibt, kann ich mir fast sicher sein, dass ich in den Foren im Dorf Reaktionen auf politische Aussagen bekomme. Zwar gibt es auch dort Menschen, die nicht gegen Stammtischparolen geschützt sind, aber die Diskussionskultur und der Umgang miteinander sind gut.
Für mich persönlich gibt es noch mehrere weitere Vorteile: Ich kann legal Hörbücher und Hörspiele hören, bevor ich mich zum Beispiel entscheide, sie zu kaufen. Zu versuchen, sie aufzuzeichnen, ergibt bei Telefonqualität keinen Sinn. Dasselbe gilt für die Charts, die drei Hörerhitparaden, an denen man sich beteiligen kann. Außerdem kann ich Beiträge aus dem Ohrfunk einem Publikum zugänglich machen, das weder Internetradio hört, noch mein Blog liest.
Neben diesen ganzen sachlichen Vorteilen erlebe ich es erstmals, dass man im Dorf Menschen trifft, mit denen man sich austauschen kann, mit denen man gleiche oder ähnliche Interessen hat. Man kann sich, wenn man will, regelmäßig oder unregelmäßig zu Gesprächsrunden treffen, man kann sich aber auch außerhalb des Dorfes privat verabreden und so sein persönliches Netzwerk erweitern. Natürlich gehen auch viele einfach so hin, um sich abzulenken, und ich habe schon einige gehört, die Stunde um Stunde im virtuellen Dorf verbringen. Dann werde ich auch immer hellhörig, denn ich weiß, dass das Telefon und auch Telefonchats Menschen süchtig machen können. Meine persönliche Erfahrung ist aber, dass man um so süchtiger wird, je weniger man von dem bekommt, was man in einem echten sozialen Netzwerk sucht. Das Dorf scheint sich jedenfalls zu einer virtuellen Gemeinschaft zu entwickeln, die so heterogen ist, wie das Leben selbst. Doch es sind nette Menschen, eine Menge Information, Wissen und Unterhaltung versammelt, und Fragen werden gern beantwortet und über Anliegen ausführlich diskutiert.
Sehr guter Beitrag, der „Lust aufs Dorf“ macht, vor allem, weil viel berichtet wird, was es dort so gibt. Danke dafür.