Heute, am 9. September 2014, hat der Hüter der Verfassung, das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, die Höhe der Regelsätze zum Lebensunterhalt nach dem Sozialgesetzbuch II für verfassungsgemäß erklärt. Damit gibt das höchste deutsche Gericht der Bundesregierung bei der Schikanierung von Menschen ohne Arbeit freie Hand und verabschiedet sich endgültig vom Prinzip des Sozialstaates. So ist auch die letzte Bastion gefallen, die in einem gewissen Rahmen noch versuchte, die Ideale des Grundgesetzes hochzuhalten.
Lassen wir uns diese Sätze noch einmal auf der Zunge zergehen, mit denen meine halbwegs politisch erzogene Generation aufgewachsen ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ und: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat.“ Es sind Sätze aus dem Grundgesetz, mit dem nach dem schrecklichen Krieg und der menschenverachtenden Herrschaft des barbarischen Nationalsozialismus in Deutschland eine bessere Zukunft anbrechen sollte. Nun ist kein System ideal, und von keinem System wird erwartet, ideal zu funktionieren. Aber wir durften erwarten, dass man es wenigstens probiert, und das ist tatsächlich auch geschehen. Bis zu einem gewissen Grad wurde tatsächlich am Sozialstaat gearbeitet, und für eine Weile war wohl auch der Wille zum Frieden echt. Inzwischen hat sich aber vieles geändert. Seit 25 Jahren hält sich Deutschland wieder für eine weltpolitische Mittelmacht und mischt sich auch militärisch in internationale Konflikte ein, und ungefähr seit dieser Zeit wird auch der Sozialstaat massiv abgebaut, wird das Argument der Wirtschaftlichkeit, des Wirtschaftsstandortes, der Konkurrenzfähigkeit immer mehr in den Vordergrund gestellt. Der Erlass des Sozialgesetzbuches II, die sogenannte Hartz-IV-Regelung, trieb die Menschen ohne Arbeit in die Armut und gleichzeitig massiv in die Stigmatisierung und Kriminalisierung seitens der Politik und der Arbeitsagentur. Der Grundsatz der Menschenwürde wurde in den Jobcentern nicht nur nicht beachtet, sondern auch als störend empfunden, wenn einzelne Mitarbeiter seine Beachtung einforderten. Die Höhe der Regelleistungen ist nach Meinung vieler Betroffener weit unterhalb dessen, was für die physische Existenzsicherung und die Teilnahme am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben erforderlich ist. Deshalb klagten viele gegen die Höhe der Regelleistungen, auch weil es klar ersichtlich war, dass die Bundesregierung bei der Berechnung getrickst hatte.
Die Hoffnungen, die die Betroffenen in das Bundesverfassungsgericht gesetzt hatten, sind heute bitter enttäuscht worden. Die Richter wiesen der Politik und dem politischen Ringen, das faktisch ja gar nicht mehr stattfindet, einen großen Spielraum bei der Bemessung der Regelsätze zu. Was wirklich bedarfsdeckend ist, und wie man die Deckung des tatsächlichen Bedarfs erreicht, vor allem aber, wie man das notwendige Einkommen errechnet, ist und bleibt Sache der Politik. Wichtig ist nach Meinung des Gerichts lediglich, dass der tatsächliche Bedarf im Wesentlichen gedeckt wird und die Berechnungsgrundlage schlüssig erklärbar ist. Ob das Ergebnis dann den tatsächlichen Bedarf wirkungsvoll deckt, ist Sache der Auswertung durch die Politik und darf vom Gericht selbst nur zurückhaltend beurteilt werden.
Ich höre die Kritiker schon, die sagen, das Gericht habe ja eindeutig festgestellt, dass der tatsächliche Bedarf gedeckt sein muss, damit sei ja alles gut. Doch wenn man weiß, dass die Festsetzung dessen, was zum Bedarf gehört, eine politische Angelegenheit ist und sich nicht an objektiven Kriterien messen lassen muss, wird dieser Satz zur reinen Makulatur. Die Bundesregierung wird immer in sich schlüssige Berechnungen vorlegen können, wie man mit der jetzigen Regelleistung auskommen kann. Es gibt sogar in sich schlüssige Berechnungen, die beweisen, dass es für bestimmte Gruppen, die man als Durchschnitt der Gesellschaft bezeichnen kann, möglich ist, mit 132 Euro pro Monat auszukommen. Dass das tatsächlich für kaum einen Menschen funktionieren dürfte, leuchtet jedem sofort ein, aber statistisch betrachtet könnte es klappen.
Das Bundesverfassungsgericht hat den Sozialstaat aufgegeben und damit die Grundsätze unserer Verfassung. Das Grundgesetz, schon vorher in wesentlichen Punkten ausgehöhlt, ist nun nur noch eine leere Hülle, aus der man mit dem richtigen Gutachten alles herauslesen kann, was man will. Es ist der endgültige Sieg des neoliberalen Modells. Dabei haben wir es noch gut getroffen: Damit die Arbeitslosen nicht betteln, gibt es die Suppenküchen und Tafeln. Teilhabe am politischen Leben ist ohnehin nicht erwünscht, aber es gibt billige Konzerte, man kann hin und wieder ins Kino gehen, und die Kulturloge ist schließlich auch noch da. Worüber beschweren wir uns also?
Hier geht es zur Pressemitteilung des Gerichts über das Urteil.