Heute haben über 4 Millionen Schotten die Wahl, sich für die Unabhängigkeit von Großbritannien zu entscheiden. Die Meinungsumfragen sehen das Lager der Unionisten, die im vereinigten Königreich verbleiben wollen, knapp vorn. Ich selbst bin ein Gegner der zunehmenden Atomisierung von Staaten, doch die schottische Unabhängigkeitsbewegung hat meine ganz private Sympathie. In diesem Blogbeitrag verfolge ich die Entwicklung bis zum Endergebnis und mache mir meine ganz persönlichen Gedanken.
08:45 Uhr: Bei der kommenden Devolution, also der föderalisierung Großbritanniens gehe es um Unternehmertum, Markt und Wettbewerb, nicht um sozialen Bürokratismus, hieß es gerade aus Regierungs- und Unternehmerkreisen in Großbritannien. So ist es recht. Tretet den Idealismus und die Wohlfahrt der Menschen mit Füßen. Die Hexe, Margaret Thatcher, wird euch noch aus dem Grab heraus beglückwünschen. Zusammen mit der „Falle für Labour“, von der ich eben sprach, ist es das Ende dessen, was das Referendum in Schottland interessant gemacht hat. Der politische Alltag hat uns wieder, und ich glaube, es wird zeit, diesen Beitrag zu schließen.
08:35 Uhr: Anhänger der Yes-Campagne in den Highlands sind enttäuscht. „Wir dachten, die Leute wollten etwas besseres, etwas neues schaffen und wären nicht zufrieden mit dem, was wir heute haben“, sagte eine Frau. „Ich kann nicht verstehen, wie eine negative Campagne so haushoch über eine positiv geführte Campagne siegen kann“, sagte ein Mann. Jemand anders meinte: „Wir haben die Campagne falsch angefangen. Wir haben darüber debattiert, was dieses oder nächstes Jahr ist, über Pfund und Euro, aber nicht über Visionen, das haben wir uns aufzwingen lassen.“ Dem kann ich nur zustimmen. Die Wirtschaft hat auch dieses Referendum bestimmt. Man betrachtet es als vernünftig für die Wirtschaft, dass es keinen Erfolg hatte. Ich verstehe die Enttäuschung dieser Leute, und sie haben meine Sympatie.
08:30 Uhr: Schon beginnt die politische Machtmühle wieder zu mahlen, die ich so hasse. David Cameron hat gerade verkündet, dass er binnen 10 Wochen auch eine englische Devolution haben will, also einen Plan für ein englisches und walisisches Parlament mit eigenen Befugnissen. Seine Minister sagen schon, dass es eine Falle für Labour ist, die sich entscheiden müssen, ob sie mitziehen und ihm die Ehre überlassen, oder ob sie dagegen sind und den Zorn der Menschen auf sich ziehen. Und wenn sie mitziehen, wird Labour in den bevölkerungsreichen Zentren Englands keine Rolle mehr spielen, dort sind die Konservativen traditionell stark, und ohne die Hilfe aus Schottland kann Labour da nicht gewinnen. Es ist also eine Art Masterplan zur Zerstörung der Sozialdemokratie durch mehr Föderalismus. Und Cameron sagt es nicht selbst, aber aus dem Hintergrund flüstert es ein Minister den Medien zu. Die Schlacht hat also schon begonnen. Damit endet mein Interesse, ehrlich gesagt. Es ist mehr als unverschämt und betrügerisch, wie da mit dem Idealismus anderer gespielt wird, um die eigene Macht zu vergrößern.
08:05 Uhr: Eine Frau, die ich gerade bei BBC Radio 4 höre, denkt darüber nach, das Land zu verlassen, weil die Unabhängigkeit nicht geklappt hat. Dieselbe politische Klasse, die uns schon eine Weile regiert, die Reichen, die sich nicht um die Belange der einfachen Leute kümmern, werden unsere Politik weiter dominieren, in diesem Land möchte ich nicht leben. Das ist eine tiefe Enttäuschung und zeigt, wie sehr die Befürworter der Unabhängigkeit Schottlands einen Neuanfang wollten, wie sehr sie versuchten, ein neues Land mit anderen Idealen zu schaffen. Ein Land, wie es das derzeit noch nicht gibt in Europa. Man wollte Vorbild für die EU sein und sie beeinflussen. Auf Twitter sagte ein Bekannter, er sei erleichtert, dass die Schotten erfolglos geblieben seien, das würde den anderen separatistischen Bewegungen den Wind aus den Segeln nehmen, wir hätten schon genug davon. So verstehe ich Demokratie nicht. Solange die Völkerverständigung gewahrt bleibt, sollte man keine Meinung unterdrücken.
07:50 Uhr: Ich bin eingeschlafen und habe die wesentlichen Stunden verpasst. Das ist irgendwie symptomatisch für dieses Referendum, es ging einfach nicht mehr. 55 % no, 44 % yes ist ungefähr das, was gestern Abend erwartet wurde, Schottland hat also seine vermutlich einzige Chance verspielt. Glasgow haben sie geholt, insgesamt 4 Bezirke, das war es aber auch schon. – Die Wahlnacht war nicht so spannend, wie sie hätte sein können. – Meine Liebste hat sie verfolgt, für den Ohrfunk habe ich sie aufgezeichnet, aber der Sieg zeichnete sich um 4 Uhr schon ab, der Sieg der Unionisten. Eine Anstrengung für einen sozialen, gerechten, demokratisch verfassten Staat ist gescheitert. Die Katalanen und die anderen Separatisten in Europa verkünden jetzt schnell, wie anders die Dinge bei ihnen doch liegen. Sie versuchen, zu verhindern, dass sie einen Rückschlag erleiden. – Und ich werde mich erst einmal über die letzten Stunden informieren. Tut mir leid für alle, die diesem Liveblog gefolgt sind. Ein paar Einträge kommen noch.
04:15 Uhr: Inzwischen sind 4 Wahlbezirke ausgezählt, die alle an die Unionisten gingen. Ich frage mich langsam, ob das ganze Kopf-an-Kopf-Rennen nicht mehr war als ein Medienhype. Die Gegner der Unabhängigkeit gewinnen offenbar recht klar und deutlich. Damit hatte ich nicht gerechnet, aber ich traue den Medien zu, so ein Kopf-an-Kopf-Rennen zu veranstalten, weil es dann spannender ist und sie mehr Umsatz machen. Also lassen sie behaupten, das Yes-Lager sei dichtauf, ja führe sogar einmal, und dann geht alles wieder zurück, weil das der wahre Sachverhalt ist. Natürlich habe ich keine Beweise, aber ich könnte mir vorstellen, dass es so ist. Und ich bin müde, aber das sagte ich schon.
03:25 Uhr: Auch der zweite Bezirk ging an die Unionisten, mit einer zweidrittel Mehrheit. Damit hatte man aber in Orkney auch gerechnet, keine besondere Überraschung. Trotzdem gilt es jetzt als ausgemacht, dass das No-Lager gewinnt. Das wirkt sich auch auf mich aus, ich werde müde. Londoner Wissenschaftler gehen sogar so weit, dass sie befürchten, das Referendum werde von der Zentralregierung ignoriert, man werde sagen, es wäre eine Eintagsfliege gewesen, dass so viele Leute für eine Unabhängigkeit gewesen wären. Der Sieg der Unionisten werde tatsächlich die Zentralmacht stärken und die Schotten in eine schlechtere Verhandlungsposition setzen. Würde das stimmen, wäre das eine echte Katastrophe. – Wir können nur noch abwarten, wie langsam die Ergebnisse hereinströmen. Es ist gleich halb vier, und erst zwei kleine Bezirke sind ausgezählt.
02:45 Uhr: Der erste von 32 Wahlbezirken hat die Stimmen ausgezählt. Die Unionisten gewinnen mit knapp 54 %. Das zeigt, dass die Yes-Campagne nicht so stark sein dürfte wie erwartet. Irgendwie ist es enttäuschend, dass wieder einmal Idealismus durch schnöde Wirtschaftsangst besiegt wird. Zumindest kommt es mir gerade so vor. Wir sitzen hier, haben inzwischen wieder zu Radio 4 gewechselt, und fragen uns, warum das Ergebnis so eindeutig war. Andererseits: Würde eine solche Zerreißprobe in Deutschland stattfinden, einem Land, das als Einheitsstaat wesentlich jünger ist als Großbritannien, würden wir da nicht auch für den Zusammenhalt und mehr Sicherheit plädieren? Auch wenn es die Bayern wären, die sich abspalten wollten? Das Ergebnis wird jetzt wohl kaum vor 10 Uhr eintreffen, und dann muss ich noch die Zeitzone vorbereiten. Ich weiß noch nicht so recht, wie das gehen soll. – Ach ja: In einem weiteren Wahlbezirk ging bei der Auszählung der Feueralarm los. Überall gibt es Pannen.
02:00 Uhr: Es gibt einige Probleme bei der Abstimmung. Wahlbetrug in einer Kiste mit Stimmen, der aber schnell aufgedeckt werden konnte, ein Autounfall, der einige Stimmen um 2 Stunden verzögert am Bestimmungsort ankommen lassen wird, und Computerprobleme vor der Verkündung der ersten Ergebnisse. Irgendjemand will, dass es spannend bleibt, obwohl die Spannung schon raus zu sein scheint. Die Medien vielleicht? – Außerdem haben wir Jugendliche gehört, die mit ja gestimmt haben. Ihre Argumente waren sehr gefühlsmäßig, nicht dass sie klare Positionen gehabt hätten. Das hätte ich eigentlich bei der Yes-Campagne mit ihren idealistischen Zielsetzungen anders erwartet. – Jetzt warten wir auf die ersten Zahlen.
01:10 Uhr: Man muss bedenken, dass die britische Regierung abgelehnt hat, mehr Optionen auf den Stimmzettel zu setzen. Dort hätte der jetzige Status quo stehen können, und auch eine sogenannte DevoMax-Regelung, eine größtmögliche Selbstständigkeit Schottlands innerhalb des vereinigten Königreichs. Das hatte die schottische Regierung eigentlich vorgeschlagen. Jetzt muss die britische Regierung so oder so mehr Befugnisse an Schottland abgeben, auch wenn das Referendum zugunsten der Unionisten endet. Der Plan dafür ist nicht ausgearbeitet, er muss aber schnell umgesetzt werden, um eine Art von sozialem Frieden im Land zu erhalten. – Wir haben von BBC Radio 4 auf BBC Radio Scotland gewechselt. Bei Radio 4 waren sie zu einseitig bei der Auswahl ihrer Gesprächspartner, SNP-Leute und Befürworter der Unabhängigkeit kamen kaum zu wort.
19.09.2014, 00:30 Uhr: Was wird also geschehen, wenn Schottland für die Unabhängigkeit stimmt? In der BBC hieß es, die Briten hätten eine Menge Erfahrung darin, Völker in die Unabhängigkeit zu entlassen, sie hätten es von 1947 bis 1980 getan und das Empire aufgelöst. Doch Schottland gehöre mehr zur Familie, sei Fleisch vom eigenen Fleisch, und es wäre eine Selbstverstümmelung. Und sie sprachen über die Königin. Sie würde ja auch für die Schotten im Amt bleiben, aber sie sagte am Sonntag, die Schotten sollten sich ihre Entscheidung sorgfältig überlegen. Technisch betrachtet war es eine neutrale Äußerung, aber sie hatte den Touch, einen Hauch persönlicher Sorge. – All dies hören wir, mit einem guten Kaffee bewaffnet, in der BBC. Ich gehe nach dieser ersten Prognose davon aus, dass die Schotten nicht für die Unabhängigkeit stimmen werden. Davor habe ich es noch für möglich gehalten. Was wird wohl die Ablehnung des Referendums für Folgen innerhalb Schottlands haben? Die Solidarität, das Eintreten für ein gemeinsames Ziel, für ein offenes und demokratisches Land, werden sie das fortsetzen können?
23:55 Uhr: 4 Studenten bei der BBC, alle haben sich spät entschieden, 2 ja, 2 nein. Manche haben immer wieder geschwankt. Die Neinsager können nicht erklären, ob es die Horrorszenarien waren, die sie haben schwanken lassen. Ich schätze, dass die, die sich in letzter Sekunde entschieden, eher mit nein stimmten. Denn wenn man sich nicht sicher ist, siegt glaube ich oft am Schluss die Angst vor dem Ungewissen. Da steht man dann in der Kabine und denkt: Morgen ist das nicht mehr mein gewohntes Land, und wer bezahlt dann meine Rente? Was, wenn das Öl zur Neige geht? Und man sagt dann lieber no. So sieht auch die inoffizielle erste Wahlprognose aus: Ja 46, nein 54 %. Die Befürworter mögen lauter gewesen sein, aber sie waren wahrscheinlich nicht erfolgreicher. Und das, obwohl die No-Campagne mit dem schlechten Image des ständigen Neinsagers leben musste.
23:30 Uhr: Pünktlich um 23 Uhr begann BBC Radio 4 mit der Berichterstattung, und sie bemühen sich wirklich um Neutralität. Wir lauschen fasziniert. So wissen wir schon, dass von der Insel Barra die Stimmen später eintreffen, weil sie per Boot nach Edinburgh gebracht werden müssen, denn für einen Hubschrauber ist zu viel Nebel. Die Sendung wurde mit dem Satz eröffnet: „Schottland hat sich entschieden.“ Das stimmt, und das wurde mir dann auch klar: Schottland hat sich bereits entschieden, wir kennen nur das Ergebnis noch nicht. Alle politischen Vertreter haben eben im Studio gesagt, dass von der Campagne, egal wie sie ausgeht, das Engagement der Wählerinnen und Wähler übrigbleiben soll. Seit 1951 hatte Schottland nicht mehr eine solch hohe Wahlbeteiligung. Die Nacht über wird debattiert und berichtet. Ich hoffe, wir kommen zwischendrin auch mal dazu, unsere eigenen Gefühle zu sortieren. Ich weiß nicht, ob auch ein deutscher Sender berichtet, oder ob die ARD die lange Nacht mit den deutschen Interessenten durchsteht. Ich werde mich da wohl mal informieren. Jetzt ist erst einmal Kaffeetime, obwohl die Schotten ja eher Tee trinken. Dafür ist dann aber eher meine Liebste zuständig.
23 Uhr: Bis zur letzten Minute spielen sie in den britischen Medien andere Sendungen. Auf BBC Radio 4 geht es um Strafgefangene mit Behinderung, ein interessantes und wichtiges Thema. Auf Radio Scotland spielen Sie Dudelsackmusik. Inzwischen haben wir unser privates Referendum abgeschlossen und ich habe noch einen Kaffee gemacht. Die Spannung bringt uns fast um.
22:30 Uhr: Wir haben noch schnell eine Hörspielsendung für Samstag produziert, jetzt können wir uns voll dem Referendum widmen. Die spannendste Frage bei uns zuhause ist: Mache ich noch einen Kaffee für die lange Nacht, oder lasse ich es vernünftigerweise bleiben. Oder was wäre in diesem Falle vernünftig? Unsere Kaffeefrage lässt sich durchaus mit dem Referendum vergleichen, in beidem steckt eine ungewisse Zukunft. Und auch für uns ist das Referendum ein Event, genau wie für die südkoreanischen Touristen, die heute Abend durch Edinburgh streifen. Außerdem sind Vertreter von 29 separatistischen Gruppierungen da, um sich mit den Befürwortern der Unabhängigkeit Schottlands zu solidarisieren. 29 Gruppierungen sind eine ganze Menge, sie nutzen die Abstimmung für ihre PR-Campagnen. Manche genießen die letzte Nacht des alten Empire, andere können nicht schlafen, weil sie sich fragen, wie morgen die Flagge aussehen wird. Kein Witz: Das alles kann man auf Twitter nachlesen. Ich weiß nicht: Vielleicht brauche ich doch einen Kaffee.
21:50 Uhr: Frankreichs Präsident warnt vor den Folgen des Referendums, während unsere Bundeskanzlerin eher still in dieser Frage ist. Gut: Sie sagt eigentlich in fast allen wichtigen Fragen nichts, aber ich hätte gedacht, dass auch sie mehr warnt. Schließlich gefährdet ein solches Referendum die aktuellen Machtverhältnisse. In Schottland selbst packen die Befürworter der Unabhängigkeit ihre Listen aus und zerren die letzten Unentschlossenen, die noch nicht wählen waren, zu den Urnen, oder haken zumindest nach. Was bei uns als nervige Nötigung gelten würde, ist auf der Insel ein ganz normaler Wahlkampf und wird in der Regel nicht verübelt. Ob das aber noch reicht? Ich schätze, die andere Seite macht auch so etwas. Aktuelle Infos gibts übrigens auch beim Spiegel.
21:05 Uhr: Etwas gegessen habe ich, und dann stürzte mir mein Twitter Client ab, und ich habe fast anderthalb Stunden gebraucht, damit er wieder lief. So etwas mag ich an solchen Tagen. Außerdem habe ich mir ein paar O-Töne für die morgige Sendung beim Ohrfunk geholt, in der das Referendum eine große Rolle spielen wird. Jetzt werde ich meine Recherchen wieder aufnehmen.
19:20 Uhr: Hier ein Link zu einem Beitrag beim Deutschlandfunk. Da wird behauptet, der Meinungsstreit über die Unabhängigkeit hinterlasse einen politischen Scherbenhaufen und erodiere die EU. Das ist so eine seltsame Meinungsmache. Unterschiedliche Meinungen und der Streit darüber sind das Herz der Demokratie. Davon erodiert noch gar nichts. Und eine EU-freundlichere Regierung als die schottische scheint kaum denkbar zu sein. Die EU muss nur wollen!
19:05 Uhr: In den Medien hört man immer weniger über das Referendum. Was denn auch, es gibt keine neuen Nachrichten. Zwischen 3 und 5 Uhr deutscher Zeit sind die ersten Ergebnisse zu erwarten, bis sieben Uhr soll das Ergebnis vorliegen. Ich habe ein Gefühl wie am Tag der deutschen Einheit 1990, den ich damals in Berlin verbrachte unter den feiernden Menschen. Ich erinnere mich an den Vorabend, wo klar war, dass in wenigen Stunden die Existenz der DDR enden würde. Wenn ich mir jetzt vorstelle, ab morgen ist klar, dass es das vereinigte Königreich nicht mehr geben wird, ist das wirklich sehr merkwürdig. Schottland war für uns bislang Whisky, Kilt, ein kaum verständliches englisch und natürlich der Dudelsack. Wir glaubten zu wissen, dass die Schotten ein stolzes und kriegerisches Volk sind, und manchmal mögen wir sie mit den Iren verwechselt haben, oder? Und morgen könnte alles anders sein. Ist es wirklich so schlimm, sich in kleine Staaten aufzuspalten? Eine Satire verkündete heute, kleine Staaten wären nicht so einfach in der Lage, Krieg zu führen, am besten man machte die Staaten so klein wie kleine menschliche Körperteile. Problematisch wäre es dann mit der Wirtschaft, also ich meine, wenn die Staaten Regionalstaaten wären. Mein Problem sind nicht kleine Staaten, sondern kleine Nationalstaaten. Kleine Staaten seien eine europäische Tradition, schrieb ein Kommentator hier sinngemäß. Das stimmt, aber es handelte sich um Staaten ohne eigene Nationalität oder Ethnie. Es waren einfach Personenverbände. Die Schotten hingegen sind ein klassischer Nationalstaat. In diesem Falle mag das gut gehen, aber kleine Nationalstaaten entstehen oft durch nationalistische Gruppen, die sich von größeren Staaten abspalten wollen. Wenn sich Flandern von Belgien abspaltet, gibt es Gemeinden mit französischsprachigen Einwohnern dort, die sich von Flandern werden abspalten wollen. Oder was ist mit den Ungarn in Rumänien, in deren Gebiet die Rumänen die neue Minderheit wären und sich möglicherweise wiederum abspalten wollen würden. Das meine ich mit Atomisierung. Gegen diesen Trend habe ich etwas, nicht gegen idealistische Staatsgründungen.
17:40 Uhr: Weil ich immer noch allein hier sitze, und meine Liebste sich noch nicht zu mir gesellt hat, habe ich BBC Radio Scotland eingeschaltet, um zu hören, was man in Schottland über das Referendum sagt. Aber welch eine Überraschung: Es gibt keine Berichterstattung im schottischen Heimsender, nur die Nachrichten verkünden, dass 97 % der Wählerinnen und Wähler sich registrieren ließen und jetzt zu den Wahlurnen strömen. Es gibt heute keine Meinungsumfragen, das ist normal, aber es gibt auch keine Berichterstattung während des Wahlganges selbst. Erst um kurz vor 11 heute Abend geht es wohl los in der BBC. Ich hätte es ja noch besser gefunden, wenn man Meinungsumfragen eine Woche vor dem Referendum untersagt hätte. Auf Twitter schrieb jemand: Er frage sich, ob die Schotten sich durch die mediale Berichterstattung über negative Folgen der Unabhängigkeit irre machen lassen würden. Bei uns in Deutschland würde so etwas immer ziehen, fügte er hinzu. Da ist was dran. Die Angst um Arbeitsplätze scheint alles zu sein, was Menschen heutzutage noch bewegt. Drum gefällt mir der Idealismus der Befürworter der Unabhängigkeit, auch wenn er vielleicht etwas naiv ist. Sicher wird es negative wirtschaftliche Folgen der Unabhängigkeit geben, aber es sind größtenteils herbeigeführte negative Folgen, weil die Banken und Unternehmen das Land verlassen. Vielleicht, weil es zu sehr auf Arbeitnehmerrechte und soziale Gerechtigkeit pochen will. Die EU wird den Schotten den Beitritt möglicherweise verwehren. Es sind Folgen, die nicht natürlichen Ursprungs sind. Insofern ist eine Warnung vor ihnen eine Drohung und eine Erpressung.
17:15 Uhr: Ein interessanter Artikel in der Tageszeitung „Die Welt“, die eigentlich nicht so meine Kragenweite ist. Aber interessant ist es schon. Der Eindruck wird vermittelt, dass ein „Ja“ zur Unabhängigkeit eine Herzenssache ist, während der Verstand eigentlich mit „nein“ stimmen müsste. Sicher ist aber: Schottland ist morgen sowieso ein anderes Land. Weil die konservative Regierung ihre Versprechen einlösen muss, die sie gab, um die Leute zum Verbleib in der Union zu bewegen, wird Großbritannien über Nacht föderaler werden müssen. Auch in anderen Teilen des Königreichs regt sich der Wunsch nach mehr Selbstständigkeit. Wie gesagt, ich bin gegen die Atomisierung von Staaten, und nicht jede Gruppe, die mit einer Regierung unzufrieden ist, sollte ihren eigenen Staat bekommen. Auch gemeinsame Sprache, Kultur und Geschichte zwingen meiner Ansicht nach nicht zu einem eigenen Staat. Gemeinsame Werte aber vielleicht schon eher.
17 Uhr: Noch 6 Stunden bis zur Schließung der Wahllokale. Bis dahin streife ich durchs Netz, um weitere Meinungen zu hören. Aber ich halte mich auch im Dorf-Telefonchat auf. Auch dort gibt es nur zwei Bereiche, in denen die schottische Abstimmung interessiert: Wirtschaft einerseits, und die Auswirkungen auf andere Unabhängigkeitsbewegungen andererseits. Allerdings wurde mir die Frage gestellt, ob eine solche Abstimmung in Deutschland möglich wäre, z. B. wenn Bayern sich Österreich anschließen wollte. Das ist nach jetzigem Stand des Grundgesetzes nicht möglich, dazu bedürfte es einer Verfassungsreform. Solche Abspaltungen finden aber fast immer außerhalb der geltenden Verfassung statt. Die britische Regierung beispielsweise hat den Schotten die Abstimmung erlaubt. Das ist nicht gegen die britische Verfassung, denn dort gibt es kein geschriebenes Grundgesetz, die Regierungen und Parlamente haben da freie Hand. Anders ist das in Belgien und Spanien z. B., wo eine solche Abspaltung entweder nicht vorgesehen oder gar verboten ist. Niedergeschriebene Verfassungen sind da naturgemäß strikter. Hier ist eine Liste von Gebieten, in denen es Unabhängigkeitsbestrebungen in der EU gibt.
16:20 Uhr: Deshalb bin ich so zwiegespalten. Im Baskenland und in Katalonien wird jetzt nach einer ähnlichen Abstimmung gerufen. Die spanische Zentralregierung will sie keinesfalls dulden. Man kann, wenn man will, eine gewaltsame Zersplitterung des spanischen Staates befürchten, oder den Rückfall in die brutale Diktatur. Viele Staaten haben keine Erfahrung mit Föderalismus, und in vielen Staaten will die Bevölkerung so etwas auch nicht. Sie glaubt oft, dass totale Unabhängigkeit das Allheilmittel ist. Der Irrglaube, dann gäbe es weniger wirtschaftliche Probleme, ist weit verbreitet. Meistens ist es ja doch die schwierige Wirtschaftslage, die solche Bestrebungen fördert. In Schottland sind es eher soziale Errungenschaften, aber für die Politiker in Europa und für die Medien handelt es sich einfach um eine nationalistische Bewegung. Wenn Schottland unabhängig werden sollte, ist das eine Initialzündung auch für die rechten und nationalistischen Unabhängigkeitsbestrebungen in Europa.
16 Uhr: Ich verfolge schon seit einigen Stunden die Presseberichte z. B in der TAZ. Natürlich kann man noch nicht viel sagen, die Wahllokale schließen erst um 23 Uhr deutscher Zeit, aber die Stimmung kann man schon einmal einfangen. Fast alle wahlberechtigten haben sich für die Abstimmung registrieren lassen, weit über 90 % werden wohl am Referendum teilnehmen. Aus allen Presseorganen wird laut und deutlich verkündet, dass eine Mehrheit in Großbritannien bleiben will. Sagen sie das so oft, damit einige Unabhängigkeitsbefürworter abgeschreckt werden? Überall reden sie von den wirtschaftlich katastrophalen Folgen für Schottland, England und Europa, wenn die Schotten sich tatsächlich für einen eigenständigen Staat aussprechen sollten. Aus der Sicht der Zentralregierungen Spaniens, Belgiens, Italiens und manch anderer Staaten ist das sogar verständlich, sie kämpfen mit eigenen Unabhängigkeitsbestrebungen. Von Staaten wie Russland oder der Ukraine reden wir dabei erst gar nicht. Ein Problem für Europa scheint die Tatsache zu sein, dass hier ein demokratischer Sozialstaat entsteht, der sofort Mitglied der EU und der NATO sein möchte, aber die Atomwaffen des vereinigten Königreichs loswerden will. In den Wirtschaftszentralen scheint man Angst vor einer mutigen, demokratischen Bewegung zu haben, und sowohl Medien als auch Politiker ziehen sie in den Schmutz. Unter Anderem deswegen sind sie für mich recht sympatisch, aber auch wegen der Ziele, die sie haben: Kostenlose Bildung und Gesundheit, während in Großbritannien deren Privatisierung mehr und mehr betrieben wird, ein offeneres Herz für Europa, eine sozialdemokratischere Politik.
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„Die Angst um Arbeitsplätze scheint alles zu sein, was Menschen heutzutage noch bewegt. Drum gefällt mir der Idealismus der Befürworter der Unabhängigkeit, auch wenn er vielleicht etwas naiv ist.“
Das sehe ich auch so. Deswegen bin ich auch emotional auf Seiten der Unabhängigkeitsbefürworter, weil sie eine positive Vision haben und sich dafür engagieren, anstatt sichs im das-war-schon-immer-so-und-anders-kanns-ja-gar-nicht-funktionieren bequem zu machen. Die Atomisierung Europas ist vielleicht als allgemeines Modell nicht geeignet, aber ich denke schon, dass das Identifikationspotential der >50-Mio.-Einwohnerstaaten deutlich nachgelassen hat. Die Rückkehr zu kleineren staatlichen Einheiten (die ja im Grunde auch eine genuin europäische Tradition sind) könnte, wo gewollt und herbeigesehnt, der allgemeinen Trägheit wohl etwas gegensteuern.