In alten Filmen, Hörspielen und Büchern gibt es, wenn sie langsam und nicht voller Action sind, hin und wieder ein Motiv von zwei oder drei alten Männern, die an einem Bierstand stehen, in einem Restaurant sitzen, sich auf einer Parkbank treffen. Dann sitzen sie da, schweigen lange, weil sie sich so gut kennen, und erklären sich irgendwann in langsamem Ton die Welt, sprechen über Gott, die Jugend, Philosophie, ihre Wehwehchen, die Liebe, das Wetter und den Tod. Manchmal lösen sie Kriminalfälle, manchmal beobachten sie als Statisten den Wandel in der Welt, den sie meistens vordergründig nicht verstehen und doch scharfsinnig verfolgen.
Obwohl meine Mittwochsrunde ganz anders ist, viel schneller, spritziger, manchmal auch kontroverser und anteilnehmender, vergleiche ich uns hin und wieder mit diesen drei Männern in alten Filmen, Hörspielen und Büchern. Vermutlich ist es wegen der gleichen Rituale. Brötchen stehen auf dem Tisch, für mich zwei Weißmehlbrötchen, die anderen essen Vollkorn, Butter, Käse und Aufschnitt haben ihren festen Platz. Kaffee kocht der Älteste von uns, es sei denn, unser Gastgeber hat seine Praktikanten eingeladen. So sitzen wir dann alle zwei Wochen Mittwochs um halb elf, immer eine halbe Stunde später als vereinbart, im gemütlichen Wohnzimmer von Franz-Josef Hanke und plaudern über die Welt. Das heißt: Eigentlich reden wir zunächst über Ereignisse der letzten Woche, und wenn Praktikanten dabei sind, werden die erst einmal ausgefragt, woher sie kommen, was sie studieren, und ob Franz-Josef sie nicht zu sehr schindet. Aber schnell wendet sich die Diskussion aktuellen politischen oder gesellschaftlichen Themen zu, und manchmal führt uns Franz-Josef auch durch die Geschichte seiner Kindheit und Jugend, nimmt uns mit auf eine Reise in den Kölner Karneval, oder lässt uns an der Frühzeit der hessischen Grünen teilhaben, auf dass wir einen Hauch dieser friedensbewegten Aufbruchjahre verspüren, die ich nur im Radio verfolgte.
Wir sind zu dritt: Dr. Eckart Fuchs, der Physiker, handwerker, Romantiker und Poet, der Stillste unter uns, der nur ab und zu sehr treffende Bemerkungen macht, den Kaffee kocht und immer weiß, hinter welcher Glastür sich der Zucker verbirgt, den er, genau wie ich, im Kaffee braucht. Dann natürlich Franz-Josef, unser Gastgeber, der Angelpunkt unserer Runde, um den sich alles dreht. Für jeden hat er einen Rat, und wenn jemand handfeste Hilfe benötigt, beim Autokauf, beim Liebeskummer oder bei politischer Lethargie, dann ist er dabei und teilt bedenkenlos Geld, Rat und Hoffnung. Er ist Journalist, Bürgerrechtler, Demokrat alter Schule, aufgegangen in der digitalen Gesellschaft, freundlich, weltoffen und geschichtsbewusst. Er redet gern, erzählt von Vergangenem und den Möglichkeiten für die Zukunft. Mir hat er beigebracht, was ich über Journalismus weiß, hat mich darin bestärkt, meine Talente zu nutzen, mich zu trauen, sie überhaupt zu erkennen und an sie zu glauben.
Seit Jahren sitzen wir alle zwei Wochen Mittwochs an diesem Platz, und es ist ein liebgewordenes Ritual. Manchmal geht es bei uns hoch her, wir sind uns nicht immer einig, aber wir nehmen immer das, was die Anderen sagen, dankbar auf und lernen daraus, erweitern unseren Horizont. Neulich kam ich auf die Idee, wir sollten die Ergebnisse unserer Tischgespräche zusammenfassen und, wenn es sich lohnt, als Blogbeiträge veröffentlichen. Franz-Josef mochte diese Idee und bald darauf erschienen zwei Artikel in seinem Blog. Mit dem einen bedankte er sich für unsere Gespräche, für unsere Freundschaft, was ich nur zurückgeben kann, und was mich sehr berührt hat, und mit dem Anderen besprach er unser letztes großes Thema, die digitale Evolution und ihr immenser Einfluss auf das gesellschaftliche Leben. Das klingt vielleicht etwas abgehoben, aber ich meine folgendes: Vor 20 Jahren sah ich zum ersten mal ein Handy, und heute singen schon Vögel Handytöne nach. Was macht das mit uns, immer vernetzt, immer erreichbar zu sein, immer und überall unsere Spuren zu hinterlassen, selbst wenn wir uns dem Internet verweigern? Was hat sich in unserem Bewusstsein geändert. Dieselben Leute, die vor 30 Jahren gegen die Volkszählung demonstrierten, schreiben heute ihre Daten auf Facebook. Die nächste Generation ist die Generation „wisch und weg“, oder so ähnlich.
Wir sprechen in dieser Mittwochsrunde darüber, was es mit uns macht, wie sehr ich mich lange gegen ein Handy sträubte, bis ich auch in unserem Urlaubsort in den Niederlanden keine Telefonzelle mehr fand und einsah, dass es notwendig war, im Notfall irgendwo anrufen zu können, dass wir andererseits gern vernetzt arbeiten und unsere Erkenntnisse und sicher auch unsere Daten austauschen, und dass wir nicht mehr ohne diese Möglichkeiten leben wollen. Ich erinnere mich daran, wie Franz-Josef vor 17 Jahren sagte: „Das Internet ist nicht alles, es ist nur ein Verbreitungsweg von vielen, und einer, der nicht mal viele Leute erreicht.“ Er sagte das als Journalist und stand dem Schnickschnack kritisch gegenüber. Kaum ein Jahr später gründeten wir den Arbeitskreis barrierefreies Internet, um die Zugänglichkeit von Internetseiten für Menschen mit Behinderung zu fördern. So schnell konnte es gehen.
Nein, wir sind sicher nicht die drei alten Männer aus den Büchern, Hörspielen und alten Fernsehfilmen. Wenn wir da Mittwochs beisammen sitzen, wenn die Brötchen vertilgt sind und wir die zweite Runde des starken Kaffees ausgeschenkt haben, und immer vorausgesetzt, wir müssen nicht an der Technik des Hausherrn arbeiten und haben Zeit zum Nachdenken, dann fühlen wir wohl alle, dass wir in zwei Epochen zuhause sind. Wir haben alle noch Briefe geschrieben und einmal im Monat mit unseren Freunden telefoniert, die Nachrichten im Radio oder auch mal im Fernsehen verfolgt, vertiefende Berichterstattung aus Tages- und Wochenzeitungen erhalten, die Busfahrpläne am Aushang an der Haltestelle gelesen, in der Telefonzelle gestanden und kurz unseren Verwandten mitgeteilt, dass wir gut im Urlaub angekommen sind und vieles mehr. Und gleichzeitig fühlen wir uns im Internetzeitalter angekommen und nutzen es. Wir wissen eben nur, dass das Internet nicht alles ist.
Gegen 12 Uhr verlassen wir Franz-Josef, meistens hören wir die Glocken der nahen Elisabethkirche, wenn wir hinaustreten. Ohne diese Treffen, ohne den Scharfsinn, das Wissen und die Anteilnahme meiner Freunde wäre mein Leben ärmer. Aber ich habe nicht nur viel gelernt in diesen Jahren. Ich habe auch Menschen getroffen, die Anteil an dem nehmen, was mich bewegt. Während wir uns unterhalten klingelt kein Handy, und wenn das Telefon sich meldet, ist Franz-Josef auch nicht begeistert und bescheidet den Anrufer meist freundlich aber bestimmt, er möge sich später noch einmal melden. So sind wir mit den Jahren alle echte Freunde geworden, auf diese unauffällige, unaufdringliche Weise, die aus einem kleinen Debattierclub mit interessanten Ansichten mit der Zeit mehr werden lässt, eben wahre Freunde.
Ob wir in 10 Jahren immer noch alle zwei Wochen Mittwochs zusammensitzen werden, weiß ich nicht, aber ich hoffe es. Wie die Welt dann wohl aussieht? Und werden wir uns dann immer noch gegenseitig mit Rat und Tat zur Seite stehen können, um die Dinge zu bewältigen, die uns in dieser Welt begegnen? Ich für meinen Teil hoffe ja, es wird in dieser Zukunft immer noch ungesunde Weißmehlbrötchen geben, und natürlich Zucker für den Kaffee.
Danke für diesen schönen und berührenden Text, lieber Jens!
fjh
Sehr schön, mein Lieber – nun fällt mir keine treffende, trockene Bemerkung mehr ein, denn dein Artikel ist ja eine Umschreibung all dessen, was mir wirklich an Treffendem und Trefflichem zum Thema in den Sinn kommt, er ist wie ein Stück Zucker, der statt des obligatorischen Kaffees diesmal unseren ganz persönlichen Alltag mit noch mehr Intelligenz versüßt. Danke.
Bis Mittwoch! 🙂
Ein toller Artikel ! Wunderbar philosophisch, freundlich und lebenslustig. Es gibt Dinge im Leben, die kann man mit Geld nicht kaufen. Eure Mittwochsrunde ist so eine besondere Sache .Ich habe es ja schon mal geschrieben, da müsste man dabei sein, natürlich nur als Mäuschen, um die Rituale und die Eintracht nicht zu stören. Die Veränderung unserer Umwelt ist erschreckend und schön zugleich. Das Tempo ist einfach der helle Wahnsinn. Ein Foto meiner Hochzeit war in Kanada, bevor ich es sehen konnte. Irre ! Manchmal wundere ich mich immer noch und staune über all die tollen Dinge. Man geht Tag und Nacht in den Sparkassencontainer und kann Geld und Auszüge holen. Fast alle Benutzer nehmen das als absolut selbstverständlich – ich begeistere mich über diese Möglichkeit fast immer. Auch das erwähnte Handy ist in meinen Augen eine Revolution.
Und ist heute das Handy noch ein Telefon ? Oder wohl eher ein Spitzencomputer ?
So rast die Zeit und die Entwicklung dahin, Wäre schön, wenn in der medizinischen Forschung das Entwicklungstempo so furios wäre, wie in der Technik.
Bleibt bitte gesund ihr drei Philosophen und danke für die wunderbaren Beiträge und Gedanken.
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