Der Populismus ist besiegt, so hieß es in ganz Europa nach den Wahlen in den Niederlanden, und alle wandten sich von dem kleinen Nachbarn ab und wieder ihren eigenen Problemen zu. Aber nach 2 Monaten hat das Land immer noch keine Regierung. Im Normalfall würde es die Niederländer nicht aus der Ruhe bringen, sie sind lange „Formaties“ gewohnt, doch diesmal weiß eigentlich niemand so recht, wie es weitergehen soll, nachdem der erste Anlauf gescheitert ist. In diesem Beitrag möchte ich die Entwicklungen und Schwierigkeiten nachzeichnen, und die Unterschiede zur deutschen Regierungsbildung sichtbar machen.
In meinem ersten Beitrag habe ich die ersten 9 Tage nach den Wahlen geschildert: Die Parteien verständigten sich auf die noch amtierende Gesundheitsministerin Edith Schippers als diejenige, die auskundschaften sollte, welche Regierung zuerst ausgelotet werden sollte. Nach ein paar Tagen intensiver Gespräche schlug sie ernsthafte Verhandlungen zwischen der rechtsliberalen VVD von Ministerpräsident Rutte, dem christdemokratischen CDA unter Sybrand Buma, den linksliberalen Demokraten 66 unter alexander Pechtold und den Grünlinken unter Jesse Klaver vor. Gerade zwischen den Rechtsliberalen und den Grünlinken gab es fast unüberbrückbare Probleme, weil gerade die Rechtsliberalen nicht mit den von ihr als Kommunisten oder „Ziegenfellsockenträgern“ gebrandmarkten Grünlinken zusammenarbeiten wollten. Viele Parteien verdankten ihre Stimmen bei der Wahl einer Festlegung auf eine ganz bestimmte Klientel. Volksparteien im eigentlichen Sinne gab und gibt es kaum, und das macht eine Zusammenarbeit in zunehmendem Maße schwierig. Trotzdem einigte man sich nach der Konstituierung des Parlaments und der Debatte über den Wahlausgang am 28. März darauf, nun ernsthaft mit Verhandlungen zu beginnen.
Am 29. März traf man sich erstmals formell im Statthaltersaal des Gebäudes der zweiten Kammer. Edith Schippers, übrigens Mitglied von Ruttes Rechtsliberalen, ließ verkünden, dass sie vor dem Sommer eine neue Regierung zustande bringen wolle. Das ist auch wichtig, denn im September, am sogenannten Prinsjesdag, wird der Haushalt ins Parlament eingebracht. Wenn dann die geschäftsführende Regierung noch im Amt ist, wird es nur einen Haushalt geben, der die laufenden Angelegenheiten Regelt, denn eigene Initiativen kann die alte Regierung nicht mehr einbringen. Das muss unter allen Umständen verhindert werden. Um zu wissen, worüber man verhandeln konnte, wurden in den ersten Tagen eine Reihe von Experten eingeladen, darunter die Chefs des zentralen Planungsbüros, der niederländischen bank, des sozialökonomischen rates, des Finanzministeriums, der Streitkräfte und der Geheimdienste. Sie lieferten den insgesamt 9 Verhandlungsteilnehmern Dossiers über die aktuelle Lage und die Aussichten für die nächsten Jahre. Solche Konsultationen mit hohen Beamten aus Institutionen im Bereich Wirtschaft, Politik, Finanzwelt und Militär finden in Deutschland bei Koalitionsverhandlungen nicht statt, auch lassen die parteien ihre Regierungsprogramme nicht vom statistischen Bundesamt auf Machbarkeit durchrechnen. In den Niederlanden ist dies eine Übung, die immer befolgt wird.
Doch wer nun wissen wollte, was bei all diesen Besuchen herausgekommen war, der wurde enttäuscht. Von Beginn an befolgten alle Teilnehmer die seit mehr als 30 Jahren übliche Radiostille. Tag für Tag standen und stehen viele Journalisten an den Zäunen des sogenannten Innenhofs, um eine Äußerung der Verhandlungspartner zu bekommen, doch die halten sich mit eiserner Disziplin zurück. So muss man sich als Journalist mit anderen Themen befassen, ehemalige Politiker befragen, Experten suchen, spekulieren und die Stimmung anheizen. Sieben Wochen lang.
Anfangs hatte man noch erwartet, dass einige Verhandlungsführer oder ihre Sekundanten vielleicht doch gegenüber der Presse ein paar Worte aus dem inneren Zirkel würden fallen lassen, um ihre Partner und die Informateurin, so der jetzt offizielle Titel von edith Schippers, zur Eile zu drängen. Doch bei so großen Unterschieden zwischen den Parteien, und bei der durch den Wahlkampf aufgeheizten Stimmung hielten sich alle an die Nachrichtensperre, um wenigstens den Versuch zu machen, die Verhandlungen zu einem positiven Abschluss zu bringen. Viele Journalisten deuteten aber vom ersten Tag an an, dass diese Verhandlungen scheitern mussten. Jesse Klaver von den Grünlinken wollte nicht als der Mann da stehen, der seine Ideale für eine Regierungsteilnahme mit drei relativ rechten parteien verraten hatte, und die meisten Mitglieder der VVD wollten schon gar nicht mit den Grünlinken zusammenarbeiten. Es ist aber Sitte, dass man in den niederlanden den größten Gewinnern bei einer Wahl die Chance gibt, an der Regierung mitzuwirken, zumal es hier kaum eine andere Möglichkeit zu geben schien. Ob Mark Rutte über diese Koalition wirklich verhandeln, oder die Grünlinken nur überzeugen wollte, dass es keinen Sinn hat, werden wir wohl nie erfahren.
Am 1. April begannen die Interviews in den Zeitungen, zum Beispiel mit Lodewijk Asscher, dem Fraktionsführer der sozialdemokratischen PVDA, die bei der Wahl von 38 auf 9 Sitze geschrumpft war und Teil der letzten Regierung war. „Wir gehen in die Opposition“, sagte Asscher klar, ließ aber ein ganz klein wenig den Spalt für Verhandlungen offen. Was, wenn die Verhandlungen mit den Grünlinken scheiterten, und dann auch die Verhandlungen mit der Christenunion, die sicher als nächstes folgen würden? Bevor es zu einem Minderheitskabinett komme, könne man neu Nachdenken, ließ Asscher durchblicken. An diesen Optionen der Regierungsbildung hat sich über die ganzen kommenden sieben Wochen nichts geändert, über andere Zusammensetzungen eines künftigen Kabinetts wurde nicht spekuliert.
Alle Beobachter erwarteten, dass es in den Verhandlungen in vielerlei Hinsicht um das Klima gehen würde, ein Thema, über das man sich nur schwer einigen konnte. Die Grünlinken wollten mehr Geld für Umweltschutz, Abgaben auf jeden mit dem Auto gefahrenen Kilometer, mehr Radwege, die Stärkung des ÖPNV und die unbedingte Erfüllung der Klimaziele von Paris. Die rechtsliberale VVD stand absolut dagegen, sie wollte die Abschaffung aller Tempolimits auf Autobahnen und freiwillige, vom Staat subventionierte, Umweltanstrengungen der Unternehmen. Doch gerade hatten die Verhandlungen begonnen, da meldete sich die VVD-Jugend zu Wort und verlangte mehr Umweltschutz, wenn man schon mit den Grünlinken zusammenarbeite. Außerdem meldeten sich einige Großunternehmen, die von der Politik, was für ein Vorgang, verbindliche Umweltschutzregelungen und Zielsetzungen erwarteten. Also rechneten viele Beobachter damit, dass die VVD sich auf mehr Umweltschutz einlassen würde. Doch auch der CDA war gegen verpflichtende Umweltschutzregeln. Was, so fragten die Experten, könne man Sybrand Buma anbieten? Vielleicht die Freistellung der Bauern von Umweltbelastungen und entsprechenden Regelungen? Bauern gehören zu den stärksten Unterstützern des CDA. Und wenn das nicht reichte, so könnte man die Studiengebühren wieder teilweise abschaffen, könnte mehr Geld für Verteidigung ausgeben, oder die Kinder am Beginn eines jeden Schultages stehend die Nationalhymne singen lassen, auch eine Forderung des CDA. Über solche Dinge dachten die Experten nach, während aus dem Statthaltersaal nur lautes Schweigen zu hören war.
Der Job der Informateurin ist kompliziert, sie braucht Fingerspitzengefühl. 4 sehr unterschiedliche Parteien zusammenzubringen ist eine nicht zu unterschätzende Aufgabe. Als sie öffentlich verkündete, sie wolle noch vor dem Sommer ein Kabinet präsentieren, setzte sie die Verhandler unter Druck, doch während der Verhandlungen selbst agierte sie, wie aus eingeweihten Kreisen verlautete, langsam, vorsichtig und ohne Hast. Die parteien mussten sich aneinander gewöhnen, sie mussten Vertrauen lernen, sie mussten auch ihre Basis von der Richtigkeit des eingeschlagenen weges überzeugen. Gerade bei kleinen Klientelparteien ist das schwierig, niemand will einen Fuß breit Boden preisgeben. Jesse Klaver von den Grünlinken hatte von Anfang an das Problem, mit dem Rücken an der Wand zu stehen. Würde er gegenüber den rechten Koalitionspartnern nicht zu genügend Zugeständnissen bereit sein, so gab es immer noch die Christenunion, mit der man verhandeln konnte, auch wenn eine solche Koalition in der ersten und in der zweiten Kammer nur über jeweils eine Stimme Mehrheit verfügen würde. Und wenn das nicht klappte, könnten sich vielleicht doch die Sozialdemokraten für eine Fortsetzung der Regierungsteilnahme bereit finden, obwohl sie das derzeit noch ablehnen. So stand Klaver unter außerordentlichem Druck, und jeder wusste das.
Am 6. April überraschte Jesse Klaver (Groenlinks) die Öffentlichkeit mit der Mitteilung, dass man bei den Verhandlungen auf einem guten Weg sei. Gleich darauf dementierte die Informateurin diese aussage: „Ein neues Kabinett ist noch sehr lange nicht in Sicht“, sagte sie. Die Journalisten konnten nun trefflich über Wahrheit und Lüge streiten. Wollte Klaver seine Verhandlungspartner unter Druck setzen? Immerhin gab Edith Schippers zu, dass man in den kommenden Jahren wohl wegen der guten Wirtschaftslage über 11 Milliarden Euro zusätzlich verfügen würde, die man auf verschiedenen Gebieten einsetzen könnte. Drei Wochen später hat sie diese Aussage zurückgezogen, sie verbreitete zu viel Optimismus.
In Zeitungen, Radio und Fernsehen konnte man kaum über den Inhalt der Verhandlungen sprechen, so wurde die Tatsache ein viel besprochenes Thema, dass Jesse Klaver darum bat, am Freitag nicht verhandeln zu müssen, damit er seine Familie sehen könne. Der Papatag gehörte in den kommenden Wochen zu den oft zitierten Aussprüchen dieser Verhandlungszeit. Allerdings wurden die Verhandlungen auch aus anderen Gründen gestört, denn Klavers Mutter erkrankte schwer und verstarb Anfang Mai. Außer den Besuchern, die immer wieder eingeladen wurden, um über Wirtschaft und Finanzen zu referieren, waren dies die einzigen wichtigen Themen. und das, obwohl es wöchentlich eine Pressekonferenz gab, auf der aber absolut nichts inhaltliches mitgeteilt wurde. Sie diente nur dazu, immer wieder zu betonen, dass die Verhandlungen fortgesetzt wurden, schwierig waren, aber konstruktiv geführt wurden, und dass es eine große Arbeitsbelastung sei.
Unterdessen gab es aber doch auch berichtenswertes. In einem Land, in dem Monate über eine neue Regierung verhandelt wird, kann man in dieser Zeit im Parlament nicht über umstrittene Gesetzesvorhaben abstimmen. Darum beschließt die zweite Kammer während der Verhandlungen eine Liste umstrittener Themen, die sie während der Verhandlungszeit nicht behandeln wird. Dieses mal ist die Liste recht groß und umfasst die wichtigen Themen Umwelt- und Klimapolitik, Asylpolitik, innere Sicherheit, Pflegereform, medizinisch-ethische Fragen und vieles mehr. Solange die Verhandlungen dauern werden diese wichtigen Themen beiseite gelegt. pessimistischen Einschätzungen zufolge kann das ganze bis nächstes Jahr dauern, falls keine der möglichen Koalitionen zustande kommt, und falls es Ende des Jahres Neuwahlen geben muss, nach denen das ganze Theater wieder von vorne beginnt.
Als Mitte April die ersten bösen Zungen behaupteten, es werde im Statthaltersaal gar nicht verhandelt, sondern es würden nur Experten angehört, widersprach Informateurin Schippers deutlich: „Es wird ernsthaft verhandelt über verschiedene Themen“, ließ sie in ihrer Pressekonferenz wissen. Es sickerte durch, dass ihre Verhandlungstaktik darin bestand, zuerst über die weniger wichtigen und weniger kontroversen Themen zu sprechen. Wenn man sich darüber einmal verständigt habe, würde es allen Teilnehmern schwerer fallen, die Verhandlungen platzen zu lassen. Allerdings fragten die bösen Zungen öffentlich, welche Themen denn einfach seien. Vor allem ehemalige Politiker sprachen sich gegen eine Regierung mit Grünlinks aus, allen voran der ehemalige VVD-Stratege hans Wiegel, ein sehr rechter Liberaler, der immer für seine harte Haltung gegenüber linken parteien berüchtigt war. Früher verunglimpfte er die Sozialdemokraten, mit denen man unter keinen Umständen regieren solle. Doch jetzt, oh Wunder, plädierte er in einem Zeitungsinterview plötzlich für eine Zusammenarbeit zwischen VVD, CDA, D66 und der sozialdemokratischen PVDA, sie habe wenigstens Regierungserfahrung. Das ist zweifelsohne richtig, aber man konnte und kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Wiegel der jetzt schon geschrumpften Arbeiterpartei den Todesstoß versetzen will, indem er sie erneut in ein rechtes kabinett holt, wo ihre handschrift noch weniger zu erkennen sein dürfte als im letzten Kabinett. Die alten „Mastodonten“ versuchen so Einfluss auf die heutigen Verhandlungen zu nehmen.
Als die Journalisten langsam unruhig wurden, und als auch während der karfreitäglichen Matthäuspassion, die viele Politiker besuchten, kein geheimes Treffen beobachtet werden konnte, das Aufschluss über den Stand der Verhandlungen geben konnte, meldeten „eingeweihte Kreise“, dass die kommende Woche eine „entscheidende Woche“ werden würde. Über die Frage, was dies bedeutete, konnten die Magazinsendungen wieder tagelang berichten. Interessant ist, dass in solchen Fällen immer Vergleiche mit bisherigen Regierungsbildungen gezogen werden: „Bei der Regierungsbildung 2003 benutzte der Informateur auch den Begriff „entscheidende Woche“, und drei Wochen später stand das Kabinett.“ Solche Sätze hört man dann in den Radiostudios oder den Zeitungskommentaren, um zu überdecken, dass man nichts hat außer einer Aussage und einer großen Menge von ehemaligen Politikern, die früher an Regierungsbildungen teilnahmen und zumindest ein wenig über die Prozedur der Verhandlungen damals und über die Atmosphäre berichten können.
Als am 20. April die Verhandlungen für eine Woche unterbrochen wurden, damit die durch Wahlkampf und Verhandlung ermüdeten Protagonisten ein wenig Urlaub machen und nachdenken konnten, ließ man allgemein wissen, dass es langsam aber sicher Fortschritte gebe. Es waren sehr vorsichtige Äußerungen, und man hielt sich zurück, auf welchem Gebiet welche Einigung erzielt wurde. Sofort meldeten sich während des Urlaubs die rechten Rechtsliberalen und verlangten den Abbruch der Verhandlungen. Auch die Arbeitgeberverbände schlossen sich dem an: „Wir brauchen keine höheren Steuern und Abgaben wegen des Klimas, wir brauchen Steuererleichterungen, damit die Betriebe das Geld haben, um in Umweltverträglichkeit und Nachhaltigkeit zu investieren“, hieß es vom Chef der Arbeitgebervereinigung. Andererseits meldeten sich nun auch endlich in den Medien die Interessensverbände, die sich für eine Koalition mit den Grünlinken aussprachen. 90 Wissenschaftler und Klimaforscher unterzeichneten einen Aufruf für eine bessere Umweltpolitik, und dann gab es noch eine Nachhaltigkeitskonferenz, an der Politiker aus 6 Parteien teilnahmen, und zwar neben den 4 Verhandlungspartnern Mitglieder der Sozialdemokraten und der Christenunion. Es waren ermutigende Anzeichen dafür, dass Politiker begannen, über ihre eigenen Parteiprogramme hinauszudenken. In den Medien war zu beobachten, dass diese Initiativen zu einem vorsichtigen Optimismus führten, was die Koalitionsverhandlungen betraf. Der Wortführer des nachhaltigkeitsnetzwerks, der VVD-Politiker Gijs Dröge, verkündete nach der Vorstellung seines Klimatextes selbstbewusst: Über Klimafragen müssen sie nun nicht mehr verhandeln, das haben wir schon getan. in der tat liest sich der Text offenbar so, als sei man in einigen Punkten, wie der Kilometersteuer, die hier aber anders genannt wird, den Grünlinken recht weit entgegengekommen. Nach diesem Katalog sollte die umstrittene Erdgasgewinnung in Groningen, die schon zum Einsturz von Häusern führte, aufgegeben und Kohlenkraftwerke nach und nach geschlossen werden.
Am Königstag, dem 27. April, wurde einmal mehr darüber spekuliert, ob es gut war, den König aus der Regierungsbildung herauszuhalten. Auch hier griffen die Kommentatoren in die Geschichte: 1994 beauftragte Königin Beatrix den PVDA-Führer Wim Kok gegen den rat ihrer Berater und der anderen Parteivorsitzenden, zuerst ein Regierungsprogramm zu schreiben und dann zu schauen, mit wem er es verwirklichen konnte. Dieser ungewöhnliche Schritt führte zur Bildung der Lilakoalition, die immerhin 8 Jahre hielt, und an der neben der PVDA die VVD und die D66 beteiligt waren. Vorher waren die Verhandlungen zur Bildung derselben Koalition unter anderen Informateuren gescheitert, bei denen gemeinsam ein Programm hätte ausgearbeitet werden sollen. Eigentlich sollte die Ausschaltung des Königs bei der Regierungsbildung auch dazu führen, dass man schneller zu Ergebnissen kommt, doch das scheint nicht zu glücken. Ein deutsches Modell, also eine Verhandlung im größeren Kreise unter Führung der Vorsitzenden der beteiligten Parteien, ist in den Niederlanden unüblich. Man will dort eine neutrale Verhandlungsführung, obwohl man sich fragen kann, ob Edith Schippers, die von Mark Rutte vorgeschlagen wurde und zu seiner Partei gehört, tatsächlich unabhängig ist. Eine wichtige Frage, wie wir noch sehen werden.
Am 4. Mai meldete RTL, dass nun über Ministerposten gesprochen werde. Die VVD sollte 4, CDA und D66 je 3 und die Grünlinken 2 Minister bekommen. Einen Tag zuvor hatten Vertreter der niederländischen Wirtschaft nach einem Besuch auf Spitzbergen für mehr Klimaschutz plädiert. Es schien, als käme langsam Bewegung in die Verhandlungen, obwohl CDA-Chef Sybrand Buma und D66-Verhandlungsführer Pechtold dem RTL-Bericht kräftig widersprachen. Auch Edith Schippers äußerte sich und stellte klar: „Über Ministerposten wurde noch kein Wort verloren.“ Doch in den Medien verbreitete sich die Hoffnung, dass die Verhandlungen doch zu einem guten Ende führen könnten.
Herman Wijffels, selbst einmal früher Informateur für den CDA, schrieb am 11. Mai im Algemeen Dagblad, dass die Koalitionsverhandlungen nun platzen müssten, denn sein eigener Parteichef Sybrand Buma stelle sich im Bereich Klimaschutz vollständig quer und verhindere eine Einigung. Er sei der niederländische Trump, meinte Wijffels. Natürlich sprangen die Medien sofort auf diese Äußerung an, doch alle Verhandlungspartner widersprachen Wijffels noch am selben Tag: „Wir machen weiter, wir vertrauen einander, der Prozess funktioniert“, so die einhellige Antwort. Keine inhaltlichen Aussagen also, doch immer noch das Vertrauen, dass es weitergehen könnte. Schlussfolgerung der Medien: „Es muss wirklich gut laufen, sonst wäre doch spätestens jetzt ein Zeitpunkt, wo man wirklich aufhören könnte.“ Diese optimistische Grundhaltung wurde durch eine Aussage von Edith Schippers unterstützt, die in ihrer Pressekonferenz mitteilte, es würden nun Teile des Regierungsprogramms geschrieben. Welche Teile dies seien, und worauf man sich geeinigt hatte, ließ Schippers aber – wie immer – offen.
Und dann kam Montag, der 15. Mai. Wie man inzwischen weiß hatte Schippers übers Wochenende die Verhandlungsführer gefragt, ob sie einverstanden seien, an diesem Tag mit den echt schwierigen Fragen zu beginnen, nämlich mit der Asyl- und Migrationspolitik. Alle waren einverstanden, offenbar glaubten sie, es irgendwie schaffen zu können. Doch das war ein Irrtum. Jesse Klaver wollte den anderen Parteien eine großzügigere Aufnahme afrikanischer Flüchtlinge abringen, und zum Teil stimmte ihm Alexander Pechtold wohl zu, doch Rutte und Buma erklärten, dass hierüber nicht zu verhandeln sei, dass man die Asyl- und Einwanderungspolitik eher verschärfen müsse. Man merkte schnell, dass es hier keine Einigung gab, die Verhandlungen waren beim ersten tatsächlich schwierigen Thema gescheitert, nach 61 Tagen. Vermutlich werden sie in der kommenden Woche mit der Christenunion statt der Grünlinken fortgesetzt, doch Alexander pechtold hat schon mitgeteilt, dass er mit dieser partei nicht an einen Erfolg glaubt. Zu groß sind die Unterschiede in medizinisch-ethischen Fragen, insbesondere bei der freiwilligen Lebensbeendigung auch gesunder Menschen, die er einführen möchte. Allerdings ist hierüber auch der CDA nicht glücklich.
Experten fragen sich, ob Rutte Schippers instruiert hat, jetzt plötzlich und schnell mit einem harten Thema zu beginnen, um Grünlinks vom Verhandlungstisch zu drängen. Dass Rutte kein Freund linker Parteien ist, ist allgemein bekannt, er würde lieber eine mitte-rechts-Koalition führen. Möglicherweise war das Wahlergebnis in Nordrhein-Westfalen, das die CDU als klaren Wahlsieger sah und die Prozentzahl der Grünen halbierte, auch ein Grund für seinen Schritt. Vielleicht hofft Rutte, dass nach dem Scheitern mehrerer Verhandlungen und dem Ausschreiben von Neuwahlen die Grünen wieder massiv Sitze verlieren, damit man mit ihnen nicht mehr verhandeln muss.
Wie die Verhandlungen nun weitergehen, ist noch nicht sicher. Gert-Jan Segers von der Christenunie wird wohl zunächst einmal am Verhandlungstisch mitreden, doch wie lange diese Phase dauert, bleibt unklar. Keine Koalition scheint derzeit in möglichst vielen Fragen eine genügende Mehrheit für eine stabile Regierung zu erhalten. Die Parteien wissen, dass die Wähler es ihnen extrem übel nehmen, wenn sie zu viele Kompromisse machen, und die Toleranzschwelle ist bei den meisten Wählern nicht mehr besonders hoch. Von Kompromissen hält man immer weniger. Dass die Verhandlungen platzten, als man gerade das Gefühl hatte, sie könnten gelingen, ist echt dramatisch und führt die Niederlande zum Teil zurück in die Phase der Unregierbarkeit, die vor knapp 15 Jahren schon einmal sichtbar wurde. profitieren könnte davon die PVV von Geert Wilders, die jetzt wieder als strahlende Alternative zum Sumpf in den Haag da steht. Dort wird geredet, bei der PVV würde gehandelt, denken wohl viele Leute. Andererseits gibt es auch Stimmen, die behaupten, die auch beim Ende der Verhandlungen gute Atmosphäre zwischen den Verhandlungspartnern lasse eine Neuauflage möglich erscheinen, wenn alle anderen Optionen ausprobiert wurden, und wenn auch die Basis der VVD sich klar darüber ist, dass es keine andere Möglichkeit gibt.
Der Populismus ist nicht besiegt: Nicht in den Niederlanden und nicht in Europa. Es wird Zeit, dass die niederländischen Parteien über ihren Schatten springen und eine Einigung finden.
Keine Regierungsbildung nach 8 Wochen Verhandlungen ist ein Ergebnis. Die Haus-
haltsberatungen im September setzten weiteren Verhandlungen eine zeitliche Grenze.
Ein halbes Jahr Besprechungen zur Regierungsbildung, egal mit welchen Teilnehmern
und Konstellationen sind bei den geschilderten Randbedingungen dem Wähler gegen-
über vertretbar. Sollte bis zum Prinsjesdag kein positives Ergebnis vorliegen, kann die
„Königskarte“ (wie hier für 1994 beschrieben) gezogen werden, verbunden hoffentlich
mit deutlichen Anmerkungen seitens der Öffentlichkeit über Ergebnisse der
Verhandlungen.
Basis von Politik ist der ,manchmal schmerzhafte, Kompromiss. Und der Kompromiss
besteht nicht unbedingt darin, möglichst viele der eigenen Positionen durchzusetzen,
sondern darin, wenn erforderlich, 5 Schritte rückwärts zu gehen, um dann 2 oder 3
Schritte vorwärts zu gehen.
Mit freundlichen Grüßen
Herbie
Hallo Herbie: Ich stimme im Großen und Ganzen zu. Die „Königskarte“ kann allerdings nicht mehr gezogen werden. Die zweite Kammer hat das Verfahren an sich gezogen, der König ist außen vor. Und nur ein Neutraler kann auf die Idee kommen, erst einmal ein Regierungsprogramm schreiben zu lassen, um sich danach Partner zu suchen. Die „Ausschaltung“ des Königs ist praktisch nicht mehr rückgängig zu machen, sie gilt als Fortschritt des Verfassungsrechts.
Übrigens könnte es durchaus sein, dass man bis Prinsjesdag, der dieses Jahr auf den 19. September fällt, keine Regierung hat, trotz aller Beteuerungen. Rechtsliberale Finanzexperten sind jetzt schon zu vernehmen, die sagen, eine geschäftsführende Regierung könne eben kein Geld ausgeben, also könne man dieses überschüssige Geld doch in den Schuldendienst stecken.
Grüße
Jens
Danke für die Ergänzung zur „Königskarte“.
Nachdem sich die rechtsliberalen Finanzexperten geäußert haben, fehlen noch
Verlautbarungen der rechtsliberalen Rechtsexperten. Ich habe den Eindruck,
Verhandlungsstrategie ist über „zeitliche Streckung“ (weichkochen) das ge-
wünschte Ergebnis zu erreichen. Wir werden sehen.
Mit freundlichen Grüßen
Herbie
Hoffen wir auf Neuwahlen mit einem Stimmengewinn für die PVV.