Meine Jahresbilanz 2017

In meinem Freundeskreis wurde am letzten Wochenende unser Jahresfest begangen, für mich beginnt also gewissermaßen das Jahr 2018. Für den Ohrfunk habe ich auf das Jahr 2017 zurückgeschaut und mein Gefühl dazu offenbart.

Das Jahr ist fast rum, und es war eine unglaubliche politische Belastung. Diejenigen, die Grenzmauern bauen und Sicherheit schaffen wollen, haben gesellschaftliche Dämme eingerissen und Unsicherheit verbreitet. In den sozialen Medien tobt der Hass, auf vielen Straßen regiert die Gewalt, in vielen Ländern stirbt die Demokratie und blüht der verdeckte oder offene Faschismus, Rassismus und Sexismus. Dies ist nicht mehr die Welt, in der ich aufgewachsen bin, und wenn es bis 2016 darum ging, die Reste zivilisatorischer errungenschaften zu verteidigen, zu mahnen und vor einem Abgrund zu warnen, so kann es nach 2017 nur noch darum gehen, etwas neues, positives aufzubauen. Nichts ist geblieben, auch nicht in Deutschland, von den Leeren, die die Welt einst aus Faschismus und Krieg, aus 60 Millionen Toten und einem beispiellosen Völkerhass gezogen hat.

Vielleicht kommen die Zivilisationsbrüche in Wellen, dann war 2017 eine anschwellende Welle der rohen Gewalt, die die Tünche von Menschlichkeit und Vernunft hinwegspülte. Ungebremste kapitalistische Gier, Kriegslust, Völkerhass, religiöser und politischer Dünkel, Rassenwahn und Sicherheitsfanatismus schlagen über uns zusammen. Progressive, einfühlsame, menschenfreundliche, mithin links genannte Lebensvorstellungen sind unter den hämischen und schadenfrohen Tritten der Besserwisser, der mitleidlosen Zyniker, der Rassisten und Moralisten, die sich nur selbst an keine Moral halten, zerbrochen und mit Leichtigkeit verweht worden. Die Utopien sind tot, es lebe die Gewalt. So erscheint mir das Ergebnis dieses Jahres.

Mit dem Ende der Netzneutralität bekommen private, gewinnorientierte Konzerne die Macht darüber, was wir wissen und lesen dürfen, vor allem, wie und womit die armen Menschen dieser erde gebildet und gefüttert werden. Die neoliberalen Gewinnmaximierer bestimmen nun auch, welche Meinungen verbreitet werden, ohne dafür etwas zahlen zu müssen. Die Konservativen Eliten wollen sich die Wähler von den rechten Hetzern zurückholen, indem sie noch rechtere Politik machen. Da lachen die Rechten, denn sie wissen, dass der Wähler lieber das Original wählt als die heuchlerische, verfälschte Kopie. In Österreich haben nach 72 Jahren die Nazis wieder Gewalt über Polizei und Geheimdienst, und über Außenpolitik und Militär. Alle Schlüsselressorts der neuen Regierung gingen an die FPÖ. Die Welt steht am Rande mehrerer Kriege, unvorstellbare menschliche Katastrophen spielen sich in weiten Teilen der Erde ab, und in Europa schwindet zwar nicht der Wohlstand, im Gegenteil, aber er konzentriert sich in wenigen Händen und lässt die Menschen glauben, er wandere nach außen ab, was schlicht nicht der Wahrheit entspricht.

Nachdenken, friedlicher Meinungsstreit, bereichernde Diskussion, all dies sind heute Fremdworte in der politischen Debatte, die keine mehr ist, sondern nur noch ein Profilierungszirkus aufgeblasener Möchtegernfeldherren. Der Bruch geht durch die Familien, durch die Freundeskreise, durch die Nachbarschaften.

Lohnt es sich unter diesen Umständen noch, zu kämpfen? Und wenn ja: Für was?

Ja, es lohnt sich, solange wir noch für und nicht nur noch gegen etwas kämpfen. Wir werden die Kämpfe nicht gewinnen. Das weiche Wasser mag den Stein brechen, in der Realität kann es aber gegen rohe Gewalt nichts ausrichten. Wir können nur noch friedliche Inseln um uns selbst herum schaffen. Und diese friedlichen Inseln können wir zusammenführen. Und wir können so lange nein sagen, bis uns die Stimme ausgeht, bis wir verstummen und gehen. Wir können nein sagen ohne Gewalt. Wir können selbst lieben, einzeln und mit Anderen die schönen Dinge des Lebens entdecken und genießen. Wir können ein Beispiel geben, dass der Hass nicht zwangsläufig, der Zynismus nicht vorprogrammiert ist, dass Menschlichkeit in schlechten Zeiten nicht automatisch stirbt. Wir können ihnen den Spiegel vorhalten, wir können Hass mit Freundlichkeit bekämpfen, mit würdiger, standhafter Freundlichkeit zwar, aber ohne Gewalt und mit so wenig Verzweiflung wie möglich.

In diesen Zeiten der Angst will sich niemand mehr engagieren. Zu viele Drohungen von rechts kommen dann, zu viel Häme. Wem sein seelisches Wohl etwas wert ist, hält sich lieber zurück. Und die vielen Anderen, die in Gleichgültigkeit versinken, weil sie glauben, sich zu engagieren hätte ohnehin keinen Sinn, sie alle können nur zurückfinden, wenn sie um sich selbst herum Frieden schaffen. Ich glaube derzeit an keine große, positive Perspektive. Mein Weg ist es nicht, unrealistische Illusionen zu nähren. Doch viele kleine Initiativen und Perspektiven sind der urgrund, aus dem die noch nebelhafte Zukunft erwächst.

So lange ich lebe, ist es nicht zu spät. Das lerne ich aus 2017. Dabei geht es nicht um den großen Wurf, aber um mich, mein Gewissen, meinen Frieden, meine Seele, mein Umfeld. Jeder hat so ein Umfeld, jeder hat den Bereich, in dem er oder sie die Macht hat, etwas zu verändern.

So ring the bells that still can ring,
forget your perfect offering,
there’s a Crack, a crack in everything,
that’s how the light gets in.
(Leonard Cohen: Anthem)

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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