Kriegstagebuch 3: Machtspiele und Leid

Der dritte Kriegstag beginnt, und ich kann derzeit nicht schlafen, obwohl es noch nicht 5 Uhr ist. Beunruhigende, zynische und sich widersprechende Nachrichten jagen einander. In Kiew hat die Eroberung begonnen.

Russland und die Ukraine führen Gespräche darüber, wann und wo über Frieden verhandelt werden soll. Das ist zynisch, denn schon in dieser Nacht versucht die russische Armee, Kiew zu erobern und damit den Verhandlungspartner auszuschalten. Ich nehme an, es könnte ihr gelingen. Was für ein schmutziges Spiel.

Und was ist von China zu halten? Bei der Sitzung des Weltsicherheitsrates wegen des Ukraine-Krieges enthielt sich das „Reich der Mitte“ bei der Abstimmung über eine Resolution, mit der Russland verurteilt werden sollte. Russland legte natürlich sein Veto ein, aber China distanzierte sich vorsichtig von der russischen Invasionspolitik. Warum? Weil die Invasion im Grunde schon gelungen ist? Weil ein vorsichtiges Abrücken vom Sieger bedeutet, dass China mehr Druck auf Russland in der Zukunft ausüben kann?

Frankreich hatte übrigens erwogen, selbst Armeekräfte zum Schutz der ukrainischen Regierung nach Kiew zu schicken. Das wäre dann keine NATO-Sache, sondern ein selbstständiges Handeln Frankreichs. Natürlich würde die NATO hineingezogen, wenn russische Truppen gegen französische Truppen kämpfen würden.

Was für ein furchtbares Machtspiel. Die Ukraine war nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion übrigens die drittgrößte Atommacht der Welt und verzichtete freiwillig auf das Arsenal, als Russland, die USA und Großbritannien die territoriale Integrität des Landes garantierten. Daran erinnert sich heute auch keiner mehr.

100.000 Menschen sind bereits auf der Flucht, verstecken sich in U-Bahn-Schächten und Kirchen, flüchten in die Nachbarländer und lassen alles zurück. Ich finde es bewundernswert, dass die Regierung nicht geflohen ist, dass Präsident Wolodymyr Selenskyj im Land bleibt. Dabei scheint es so, dass er und seine Familie ein Ziel der russischen Aktionen sind. Noch bin ich nicht immun gegen einen Anflug von Hoffnung: Könnte es sein, dass sich Russland die Eroberung der Ukraine einfacher vorgestellt hat, als sie tatsächlich ist, und dass Verhandlungen deswegen nötig werden?

Es ist Mittag geworden. Noch immer hält Kiew stand. Wenn ich militärische Sprache nicht verdammen würde, müsste man es heldenhaft nennen. Inzwischen erreichen die Medien Nachrichten, dass alle Länder außer Deutschland den Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-Bankentransaktionsnetzwerk fordern. Ungarn hat seinen Widerstand aufgegeben. Es ist klar, dass wir in Deutschland es spüren würden, wenn dieser Ausschluss vollzogen wird: Heizgas dürfte knapp werden, Benzinpreise würden steigen, Menschen würden unzufrieden sein. Die Regierung scheut davor zurück. Ich kann es verstehen, aber ich weiß, dass es eine wirksame Aktion wäre. Es wäre gut, wenn wir es machen würden. Ich persönlich würde gern erhöhte Preise auf mich nehmen, um Putin an den Verhandlungstisch zu zwingen und den Krieg zu beenden.

Den Nachmittag über habe ich mit Freunden gesessen, angemessene Musik gehört und geredet. Und der Ticker läuft immer nebenher. Ich habe mich heute für unsere zögerliche deutsche Regierung geschämt. Am Ende war sich die ganze EU einig, nur Deutschland blockierte den SWIFT-Bann Russlands. Jetzt wird es wohl eine abgeschwächte Version geben, aber niemand weiß, was sie bringt. Deutsche wollen eben lang und warm duschen, wie jemand auf Twitter schrieb. Gerade wir müssten wissen, wie wichtig Hilfe, jede Art von Hilfe, für unterlegene, bedrohte Menschen ist. Sie sitzen in U-Bahnen, fensterlosen Räumen und Kellern, sie campieren auf offenen Feldern, sie fliehen zu den Nachbarn. Und es gibt schon seit November keinen Zweifel, dass Russland die Ukraine vernichten und die Bevölkerung zwangsweise russifizieren möchte. Schon im November letzten Jahres wurde ein Plan von Journalisten veröffentlicht, nach dem gerade jetzt die Invasion verläuft. Nur hat dem damals keiner Glauben geschenkt. Ich glaube inzwischen, dass Wladimir Putin jedes Maß verloren hat, oder dass er so machtberauscht ist, dass ihm alles egal ist. Er muss jetzt erleben, wie der Westen zu einer zögerlichen Einheit zurückfindet. Doch ob sie ausreicht, wage ich zu bezweifeln.

Es ist Abend geworden. Die Lage in Kiew hat sich zugespitzt. Jetzt sollen von überall her Waffen geliefert werden, doch die heutige Nacht könnte die Nacht der Entscheidung sein. Ich bin ein friedlicher Mensch, ich bin gegen den Krieg, ich würde immer für den Frieden kämpfen. Aber das darf nicht bedeuten, die Welt kampflos Putin oder seinesgleichen zu überlassen, so wie es einst nicht bedeuten durfte, die Welt Hitler zu überlassen. Mir hat in einer akuten Situation noch niemand einen gangbaren Weg genannt, Tyrannen zurückzudrängen. Während solcher Situationen kann man nur sagen: „Wir hätten es gar nicht erst so weit kommen lassen dürfen!“ Das hilft jetzt wenig. Die Überzeugung, man könne absolut jeden durch Diplomatie vom Krieg abhalten, fällt mir ständig schwerer. Es ist und bleibt mein Ideal, doch ich muss anerkennen, dass die Wirklichkeit fast nie einem Ideal entspricht.

Mit diesem Widerspruch werde ich schlafen gehen.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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