Kriegstagebuch 9: Kraftwerksbeschuss und Mutmach-Tweet

Der neunte Tag, was schon kaum vorstellbar ist. Heute lese ich wenig Nachrichten und denke mehr nach, um den Müll aus meinen Gedanken zu tilgen.

16 Uhr. Ich habe viel für den Ohrfunk gearbeitet, auch ein wenig für die SPD. Auch fühle ich mich ein wenig erschlagen, aber längst nicht so schlimm wie letzte Nacht. Da hatte ich einen regelrechten Depressionsanfall. Ich hatte vom Beschuss des Kernkraftwerks Saporischschja durch russische Truppen gehört. Wolodymyr Selenskyj hatte gesagt, die russischen Terroristen drohten, ganz Europa mit nuklearer Asche zu überziehen, denn genau das würde passieren, falls das Atomkraftwerk explodiere. Es handelt sich immerhin um das größte Kernkraftwerk Europas. Für ein paar Stunden hielt ich es für möglich, dass unser aller letztes Stündlein bald schlagen könnte, und meine Erleichterung war grenzenlos, als ich erfuhr, dass zum einen nur ein Verwaltungsgebäude beschossen worden war, und dass zum anderen das Feuer schon hatte gelöscht werden können. Trotzdem: Nach allem, was ich in den letzten Tagen erfahren habe, ist die Situation für uns alle nicht mit einem guten Ende denkbar.

Wladimir Putin glaubt fest daran, dass die Ukraine natürlicherweise zu Russland gehört. Auf dieser Meinung baut er seinen Angriffskrieg auf, den er seit Jahren vorbereitet, auch mit der Versicherung, er werde Atomwaffen einsetzen, und zwar gegen den gesamten Westen, wenn der sich auf irgend eine Art einmischt. Ein Nachgeben liegt nicht nur nicht in seiner Natur, es würde ihn auch das Amt und möglicherweise das Leben kosten, so weit, wie er die Propaganda auf den Siedepunkt getrieben hat. Er ist also zu einem Sieg gezwungen, die meisten Russen erwarten die Wiederherstellung der Großmacht und sind dafür bereit, wirtschaftliche Probleme in Kauf zu nehmen, wofür sie den Westen verantwortlich machen können. Sollte Wladimir Putin also drohen, den Krieg zu verlieren, so wird er die Situation eskalieren, weil er schon jetzt zu hoch gepokert hat. Seine einzige Hoffnung kann sein, dass bei einer Drohung mit oder einem Einsatz von taktischen Atomwaffen der Westen nachgibt, weil er keinen Atomkrieg mit strategischen Waffen riskieren will. Nur wenn Putin die Ukraine vollständig erobert und zerschlägt, könnte er, wenn er nicht berauscht von seinem Sieg ist, die Eskalation vorübergehend zurückdrehen, bis der übersteigerte Nationalismus Moldavien, Georgien, die baltischen Republiken und Finnland von ihm fordert. Wahrscheinlicher in meinen Augen aber ist, dass er bei einem Sieg den Westen für zu schwach hält, weil er sich nicht eingemischt hat, und dann gleich auf das nächste der Ziele, die ich gerade genannt habe, zusteuern wird. Spätestens, wenn ein NATO-Land angegriffen wird, kann das Bündnis selbst nicht mehr ohne Gesichtsverlust ruhig bleiben oder zurückweichen. Dann haben wir den Atomkrieg. China wird sich dann heraus halten und die Trümmer einsammeln. Fatal ist daran, dass die Wirtschaftssanktionen in Putins Weltsicht bereits eine Einmischung sind. Gerade jetzt, wo der Feldzug, der hauptsächlich von kampfunerfahrenen und belogenen Wehrpflichtigen durchgeführt wird, noch nicht so planvoll und schnell vorankommt, wie Putin es geplant hat, muss er das Drohpotential gegenüber dem Westen aufrechterhalten.

Durchdenke ich also alles, so ist eine Verhandlungslösung für Putin unmöglich, Kompromisse gibt es für ihn nicht, auch nicht, wenn er dafür Atomwaffen einsetzen und sein eigenes Land damit mit in Gefahr bringen muss. Er kann also nur vollständig siegen, dann zögert sich der atomare Waffengang noch etwas hinaus, oder er kann in Bedrängnis geraten, dann kommt er früher, vorausgesetzt, Putin hat die Nerven oder den Wahnsinn dazu. Nur ein Attentat auf den Präsidenten würde diese Spirale *vielleicht* stoppen, oder die Vernunft einer der drei Personen, die nötig sind, um Atomwaffeneinsätze zu ermöglichen.

20:31 Uhr: Was beschäftigt die Deutschen im Bezug auf den Krieg in der Ukraine? Meldung: Krieg löst an europas Börsen größte Verluste seit 2 Jahren aus. Das habe ich heute mehrfach gelesen. Was interessiert mich die verdammte Spekulantenbrut? Sorry, dass ich so emotional werde, aber es stimmt doch. Firmenwerte außerhalb der Spekulationsblasen messen sich nach ihrem Warenwert und ihrer Zuverlässigkeit und ihrem Preis. Nur an der Börse wird auf zukünftige Ereignisse oder andere Probleme gezockt. Lasst das Spiel endlich sein und versucht nicht, Gewinne außerhalb eurer Verkäufe zu machen. Spekulation ist unehrlich und ungerecht. Menschenverachtend ist sie auch. Wie kann so ein Dreck eine Meldung wert sein?

22:30 Uhr: Ich habe gerade einen Interessanten Twitterfaden gelesen und automatisch übersetzt, da er in englisch war. Sergej Sumlenny war Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew. Er schreibt: „Ich weiß, es klingt kontraintuitiv, aber ich habe das Gefühl, dass Russland und seine Armee kurz vor dem Zusammenbruch stehen. Russland hat offensichtlich keine Reserven mehr: Die Panzer, die es an die Front schickt, sind sehr alt, ohne aktive Panzerung und sehen aus wie Trainingsmaschinen. Sie haben keine Lastwagen, sondern verwenden zivile Fahrzeuge. Russische Flächenbombardements auf ukrainische Städte sind das Gegenteil von dem, was eine Nation tun sollte, die im Begriff ist, ihren reichen Nachbarn zu erobern (und die ukrainische Provinz ist reicher als die russische) Es ist ein Zeichen der Verzweiflung. Genauso wie der Versuch, vom Roten Kreuz gekennzeichnete Lastwagen als Munitionstransporter zu benutzen. In den letzten Tagen hat sich die Zahl der russischen Kampfflugzeuge und Hubschrauber, die von der ukrainischen Armee abgeschossen wurden, erhöht: mindestens 4 Kampfflugzeuge und 1 Hubschrauber. Wir befinden uns am 10. Tag des Krieges, und die ukrainische Luftabwehr funktioniert immer noch, während die russischen Piloten (die Elite der Elite) sterben. Die Berichte über gefallene russische Oberbefehlshaber sind belegt und zahlreich. Der höchste russische Offizier, der getötet wurde, ist ein Generalmajor der Luftlandetruppen. Den Berichten zufolge sind die Kommandeure gezwungen, sich sehr nahe an den Kampflinien zu bewegen, da die Russen ihre Aktionen nicht koordinieren können – und sterben. Russland hat in aller Eile seine Gesetzgebung geändert und erlaubt (ab morgen!) Haftstrafen von bis zu 15 Jahren für die Verbreitung der Wahrheit über diesen Krieg. Facebook ist in Russland ab sofort blockiert. Das ist nicht das, was eine siegreiche Autokratie mit voller Kontrolle über ihre Medien tut. Nach Angaben des ukrainischen Geheimdienstes (der vermutlich viele Informationen von den USA erhält) hat Russland bereits 95 % seiner für die Invasion zusammengezogenen Bodentruppen eingesetzt, was fast 100 % der aktiven russischen Bodentruppen ausmacht. Die Ukraine hat die russischen Bodentruppen faktisch ausgeschaltet. In Verbindung mit den Wirtschaftssanktionen, dem freien Fall der russischen Währung, dem Rückzug westlicher Unternehmen (die für jeden Teil der russischen Wirtschaft unverzichtbar sind) und den Folgen einer hochgradig korrupten und militarisierten Wirtschaft wird Russland sehr bald auch mit internen Problemen konfrontiert sein. Was bleibt Putin dann noch? Natürlich kann er die Ukraine atomar zerstören. Wir alle wissen, dass er das kann. Er kann die Ukraine auch weiterhin mit Terrorbomben bombardieren (die Russen setzen jetzt Freifallbomben ein, die sie sehr häufig haben, und Raketenartillerie –
die grausamsten und dümmsten Waffen), in der Hoffnung, dass die Ukrainer Angst haben und nachgeben. Russland wird auch Druck auf den Westen ausüben, um die Ukraine aus „humanitären Gründen“ zu einem „Frieden“ zu zwingen. Ich sehe diese Versuche bereits. Das wäre der Tod für Hunderttausende von Ukrainern, ein echter Völkermord, und Sklaverei für Dutzende von Millionen. Und es ist Putins letzte Hoffnung. Wenn die Ukraine noch einige Tage Widerstand leisten würde, bin ich sicher, dass Russland die größte Niederlage seiner Geschichte erleiden wird. Es gibt nichts Vergleichbares. Sie wird auch Unabhängigkeitsbewegungen in den von Russland besetzten Ländern Tatarstan, Baschkortostan, Itschkerija, Sacha, Komi und anderen auslösen. Die russischen Besatzungstruppen in diesen Regionen halten sich nur aufgrund der angeblichen Stärke Moskaus. Wenn die Moskauer Armee ausgeschaltet ist (und das ist sie fast), kann niemand Baschkortostan zwingen, den Befehlen des Kremls zu folgen. Niemand wird die Tschetschenen daran hindern, ihre Toten zu rächen. Natürlich werden die nächsten Tage hart sein. Und die nukleare Bedrohung bleibt sehr real (Atombomben scheinen die einzigen Waffen zu sein, auf die sich Putin verlassen kann). Aber ich bin mir auch sicher, dass wir sehr bald in eine glänzende, glorreiche Zukunft ohne das Gefängnis der Nationen blicken werden. Dank der tapferen Ukrainer. Слава Україні!“
Natürlich kann auch das eine Art Propaganda sein, eine pro-ukrainische Propaganda. Doch zumindest der große Militärkonvoi kommt nicht voran, der Kiew erobern soll.

Es wird spät, fast 23 Uhr. Ich hoffe, ich kann schlafen. In den letzten Nächten gelang mir das nicht gut.

Ich wünsche eine gute Nacht.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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