Kriegstagebuch 8: Viele Nachrichten, kaum eine ist gut

Nach einer Woche wird klar: Die Ukraine verliert. Da nützt die Entscheidung der Uno-Vollversammlung wenig.

Jetzt fangen auch die Ukrainer mit Kriegsverbrechen an. Die Spezialkräfte warnten, sie würden russische Artilleriesoldaten nach ihrer Gefangennahme töten, weil sie so brutal auf Zivilisten geschossen hatten. Das trübt das positive Bild etwas, das Präsident Selenskyj und viele Einheiten aufgebaut hatten, die die russischen Gefangenen wie Brüder behandelten. Sehr schade. Krieg verroht! Das allein ist schon Grund für Pazifismus.

Mit diesen Gedanken begann heute morgen mein Tag. Sie wurden noch düsterer, als ich vom Telefonat zwischen Wladimir Putin und Emanuel Macron hörte. Putin habe als Kriegsziel offen die totale Unterwerfung der Ukraine angeführt. Davon werde er nicht zurückweichen. Neben den Berichten, dass sich immer mehr Sport- und Kunstverbände und auch Firmen wie Ikea von Russland abwenden, war das eine der wichtigeren Nachrichten. Die EU bereitet sich auf mehrere Millionen Flüchtlinge vor, soweit es weiße Flüchtlinge sind, und die NATO steht geschlossen hinter der Ruhe, mit der sich Joe Biden nicht dazu hinreißen lässt, selbst an der atomaren Expansionsschraube zu drehen. In diesem Zusammenhang ist vielleicht Dieser Newsletter der Krautreporter-Redakteurin Isolde Ruhdorfer von Interesse. Sie erklärt, dass es nicht ganz so einfach ist, einen Atomkrieg vom Zaun zu brechen. Andererseits halten 104 Nobelpreisträger ihn für möglich und warnen davor öffentlich.

Im ständig laufenden Newsticker habe ich folgende interessante Meldung gefunden:
„Der Erdölkonzern Lukoil hat ein sofortiges Ende der Kämpfe in der Ukraine gefordert. „Wir setzen uns für die sofortige Beendigung des bewaffneten Konflikts ein und unterstützen voll und ganz dessen Lösung durch den Verhandlungsprozess und mit diplomatischen Mitteln“, teilte das Unternehmen mit. Das Statement von Lukoil gehört zu den ersten derartigen Erklärungen eines großen Unternehmens in Russland.“
Das Spannende ist, dass diese Nachricht aus Russland rausgekommen ist. Heute haben wirklich alle auch nur ansatzweise regierungskritischen Medien ihren Betrieb endgültig eingestellt, doch der Konzern brachte seine Nachricht in die Welt.

Und noch eine Nachricht schaffte es. Auf Jungle World erschien der Bericht eines russischen Militärarztes, der beschreibt, wie junge Wehrpflichtige in Zeitverträge gezwungen werden, um in einem Krieg zu kämpfen, ohne ein vernünftiges Training absolviert zu haben. Auch das Kriegsmaterial sei schlecht, und das erklärt vermutlich den schleppenden Vormarsch der russischen Armee, auch wenn ihr mindestens die Großstadt Chersom in die Hände gefallen ist.

Warum übrigens wird der Ruf nach einem Gas- und Öl-Embargo gegen Russland immer lauter? Die Journalistin Jagoda Marinic twitterte dazu:
„JAGODA MARINIĆ: 1 BILLION zahlt Europa an 1 Tag an Russland! Aber wir haben Sanktionen verhängt! Wir bezahlen diesen Krieg weiterhin. Wir haben ihn leider mit ermöglicht. Wir tragen Verantwortung. Zitat von Simone Tagliapietra: Quick update 🚨 At today – skyrocketing – prices, Europe will pay Russia €600 million for natural gas and €350 million for oil, i.e. around €1 BILLION in just one day.“
Die Preise für Gas und Öl steigen wegen der Sanktionen, und deshalb finanzieren wir mit 1 Milliarde, nicht 1 Billion, wie Frau Marinic schrieb, den russischen Krieg. Das ist genug für einen Tag.

Die deutsche Wiedervereinigung markierte den Beginn einer Epoche. Wird sie mit einer Teilung der Ukraine enden? Der bulgarische Politologe Ivan Krastev argumentiert in einem Beitrag in der „Zeit“: Das Europa, in dem ein großer neuer Krieg für die überwältigende Mehrheit der Menschen undenkbar sei, gehe nun unter. Künftigsei mehr Resilienz, mehr Widerstandsfähigkeit vonnöten. Die Demokratie müsse aufpassen, sich den neuen Gegebenheiten schnell genug anzupassen, denn ein System geht dann zugrunde, wenn es seine eigene Gesellschaft nicht mehr versteht, wie man an Putins Russland gerade im Ansatz sehen könne. Das sind alles trübe Aussichten.

Es gibt Abende, da bin ich nicht nur wegen der Menschen, der Flüchtlinge, dem Leid der Familien und der Traumatisierung der Kinder deprimiert, sondern auch wegen der verpassten Chance auf einen echten Friedensfortschritt in der Welt. Das amerikanische Imperium hat seinen Zenit überschritten und krallt sich mit religiösem Fanatismus an seine Einzigartigkeit, das russische Imperium soll wieder aufgebaut werden, um über die schlechte Wirtschaft und die staatliche Korruption hinwegzutäuschen und den Machismo eines Präsidenten zu befriedigen, und das chinesische Imperium steht in den Startlöchern und wird noch nicht so recht wahrgenommen. Keine gute Zeit für Demokratien, keine gute Zeit für Erzählungen, sie würden sich schon aufgrund ihrer moralisch-gesellschaftlichen Überlegenheit halten. Der Menschenfeind Adolf Hitler und viele ähnlich gesinnte Verbrecher haben schon oft gesagt: Nur straff geführte Völker überleben,weil sie nicht dekadent werden. Ich fürchte, dass darin viele Menschen ein Heilsversprechen sehen. Das ist niederdrückend.

Damit gehe ich schlafen, gute Nacht.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
Dieser Beitrag wurde unter erlebte Geschichte, Politik abgelegt und mit , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar