Kriegstagebuch 7: Der Anfang vom Ende

Fast eine Woche tobt der Krieg in der Ukraine. Fast 1 Million Menschen sind geflohen, und ich fürchte, das Land wird gerade in die Steinzeit zurückgebombt.

02.03.2022

Es ist 18 Uhr, und ich habe nur eine knappe Stunde, um mich mit den aktuellen Nachrichten zu befassen. Zwar habe ich den ganzen Tag an all das Leid denken müssen, das wir uns in unseren noch so sicheren Häusern und Städten kaum vorstellen können, aber ich habe mich ablenken müssen, weil ich andere Verpflichtungen hatte. Dass die Russen zur Entnazifizierung eine Bombe auf die Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar in Kiew werfen, zeigt überdeutlich, dass das ein Vorwand ist. Jetzt sind in dieser furchtbaren Woche schon mehr als 2000 ukrainische Zivilisten gestorben. Was für eine Tragödie.

Mit Bianca habe ich heute morgen darüber debattiert, ob es in Ordnung ist, den russischen Dirigenten Valerin Gergijew als Chefdirigent des münchener Sinfonieorchesters zu entlassen. Für mich ist nicht entscheidend, dass er aus Russland kommt, sondern, dass er Putins Angriffskrieg auf die Krim öffentlich gerechtfertigt hat und jetzt nicht bereit ist, sich vom Krieg gegen die Ukraine zu distanzieren. Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, haben auch eine Verantwortung. Natürlich herrscht Meinungsfreiheit, aber die schützt nur vor staatlicher Verfolgung und Diskriminierung, nicht aber davor, dass ein Arbeitgeber die Zusammenarbeit nicht mehr für angemessen und angebracht hält. Allerdings hätte man das auch schon 2014 tun können, aber da wollte man ja noch Geld mit Gergijews großem Talent machen. Wie immer hat die Sache mehrere Seiten.

Mein Freund Franz-Josef Hanke hat auf seinem Blog Einen Beitrag über die Situation blinder Menschen bei einem möglichen Atomkrieg veröffentlicht. Er schrieb genau das auf, was meine Liebste und ich seit Jahrzehnten dazu denken, seit wir „Die Wolke“ von Gudrun Pausewang gelesen haben.
„Mir reicht schon die Vorstellung, ich wäre auf der Flucht vor Kampfhandlungen irgendwo vielleicht in der Ukraine. Während die meisten anderen sehen können, wohin sie fliehen müssen, müsste ich mich auf die Hilfe anderer Menschen verlassen; oder ich wäre verlassen und verloren!
Wenn die Menschen ihre eigene Haut retten wollen, dann belasten sie sich wahrscheinlich nicht mit einem Blinden, den sie nur langsam geleiten können. Wer wegrennt vor Bomben und Granaten, der schaut nur noch nach vorne, wo er sein eigenes Überleben erkennen möchte. Während meine Blindheit in einem zivilisierten Land wie Deutschland und in einer sozial geprägten Stadt wie Marburg im Alltag nur manchmal ein Ballast ist, wäre sie in einem Krieg höchstwahrscheinlich der sichere Tod.“
Wir haben schon oft gedacht, dass wir in einem solchen Fall bei der Flucht der Anderen zurückbleiben würden. Und wenn wir nicht an den Folgen von Atomexplosionen sterben, dann wevor Hunger und Durst, denn vermutlich werden dann Wasser und Strom nicht mehr funktionieren. Trübe Gedanken sind das. Vor allem, weil viele Expert*innen inzwischen einen Atomkrieg immer mehr für möglich halten. Die Menschheit hat es nicht rechtzeitig geschafft, sich wieder von den Atomwaffen zu befreien.

03.03.2022, 00:15 Uhr.

Ich bin von einer extrem langen und schwierigen Sitzung der SPD zurück. Inzwischen ist mindestens eine ukrainische Stadt gefallen, eine Andere wurde mit Marsch-Flugkörpern angegriffen, bei einer dritten hat die Ukraine um freien Abzug der Zivilbevölkerung gebeten. Jetzt beginnt der Zusammenbruch des Landes. Das war nicht anders zu erwarten, und es ist tatsächlich fast ein Wunder, dass es so lange dauerte.

Ich hoffe, morgen wieder mehr schreiben zu können, oder besser gesagt, heute. Aber die Folgen unserer Sitzung heute werden mich eine Weile begleiten.

Gute Nacht.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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