Die Hoffnung ist eine seltene Besucherin

Diesen Kommentar habe ich für den Ohrfunk geschrieben.

31 % aller Deutschen lehnen die Demokratie in ihrer jetzigen Form ab. 28 % in West- und 45 % in Ostdeutschland meinen, wir leben in einer Scheindemokratie, und ein Systemwechsel sei unbedingt erforderlich. Das hat eine Umfrage des Allensbach-Instituts ergeben.

Diese Zahlen finde ich erschreckend. Sie zeigen, dass das Geschwür des Rechtsextremismus wesentlich tiefer in unsere Gesellschaft eingedrungen ist, als wir es bislang wahrhaben wollten. In Frankreich, ebenfalls eine große Demokratie, könnten die Faschist*innen in wenigen Wochen sogar die Macht übernehmen. Davon sind wir in Deutschland noch ein Stück weit entfernt, denn nicht alle Demokratiefeinde nutzen bislang die demokratischen Spielregeln, an die sie nicht glauben, und wählen faschistische Parteien. Es ist aber nur noch eine Frage der Zeit, fürchte ich, bis die sogenannte Scheindemokratie den Rechten hilft, sie abzuschaffen.

In den westlichen Gesellschaften hat niemand mehr eine Idee, wie der Verfall der Werte, der Untergang unserer Lebensart aufgehalten werden kann. In den USA dürften 2024 die christlichen Fundamentalisten die Macht übernehmen, dann haben wir dort ein Afghanistan auf christlicher Basis. Selbst wenn es in Frankreich diesmal noch nicht reicht: Beim nächsten Mal klappt es bestimmt. Auch in den letzten fünf Jahren haben wir aus der Angst vor der Machtübernahme von Frau Le Pen nichts gelernt. Der Krieg in der Ukraine beschleunigt den Niedergang, die Freundschaft zwischen Russland und China führt zu einer unwiderstehlichen Welthegemonie, der wir nichts mehr entgegenzusetzen haben. Der Austritt Russlands aus dem Europarat und die Aufkündigung der Menschenrechtskonvention zeigen deutlich, dass künftig nur noch die Macht und das Verbrechen zählen, keine Übereinkünfte, kein Völkerrecht, keine Menschenrechte mehr. Und mein Gott: Es ging alles sehr schnell!

Die Klimakatastrophe und die nächsten Hungersnöte werden die Erosion zivilisierter Gesellschaften noch weiter beschleunigen. Inzwischen glaube ich nicht mehr, dass es noch einen Ausweg gibt.

Das einzige, was wir noch tun können, ist, den Kampf so lange wie möglich fortzusetzen, wenn auch mit immer undemokratischeren Mitteln. Zum Schutz der Demokratie wird man gegen bestimmte Meinungen, gegen bestimmte Arten von Propaganda vorgehen müssen, man wird mehr Überwachung und mehr Gewissensprüfungen durchführen. Wenn die fünf UNO-Veto-Mächte erst alle Diktaturen sind, dürfte das Schicksal der restlichen Welt besiegelt sein.

Als ich vor nunmehr 25 Jahren begann, auf meiner Internetseite politische Prozesse zu kommentieren, sah die Welt noch vollkommen anders aus. Selbst vor 13 Jahren, als ich mit meinen Kommentaren beim Ohrfunk begann, war immer noch einiges an Optimismus vorhanden, so schwer es damals auch schon war. Und natürlich: Wie eine Maschine, die sich nicht abstellen lässt, werde ich mich auch in Zukunft für Demokratie und Menschenrechte einsetzen. Doch Optimismus ist mir inzwischen fremd, und die Hoffnung ist eine extrem seltene Besucherin.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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