Gedanken eines Zweifelnden: Zum 8. Mai und dem Krieg in der Ukraine

Dieser Beitrag befasst sich mit dem Zusammenhang zwischen dem 8. Mai und dem Krieg in der Ukraine. Und es geht um die Frage, ob man Waffen in die Ukraine liefern sollte oder nicht.

Heute ist der 8. Mai. Vor 37 Jahren, als Bundespräsident Richard von Weizsäcker seine berühmte Rede hielt, habe ich ihm zugestimmt, als er sagte, dieser Tag sei auch eine Befreiung für Deutschland gewesen. Für mich war dies eine Versöhnungsgeste, und ich bewunderte seine Art, Gräben zu überbrücken. Ich kann mir zugute halten, dass ich damals 16 war und nicht alle Aspekte bedachte. Denn heute zweifle ich an meiner damaligen Haltung. Deutschland ist 1945 unter großen Opfern besiegt und besetzt worden, und das ist auch gut so. Befreit wurden lediglich die Opfer des Nazi-Regimes und die überlebenden des Holocaust, und natürlich die unterdrückten Völker Europas, nicht aber die Deutschen. Denn der Faschismus hatte tiefe und feste Wurzeln im deutschen Volk geschlagen, wie man heute immer noch sehen kann. Zur Befreiung gehört auch, dass man sich befreit fühlt, dass man dankbar für diese Befreiung ist. Viele Deutsche waren das nicht, und das ist eine bittere Erkenntnis.

Heute Abend wird Olaf Scholz im Fernsehen sprechen, und er wird auch über den 8. Mai und die heutige Situation sprechen. Denn die Frage, ob wir Waffen an die Ukraine liefern sollen, hat mit dem 8. Mai viel zu tun. Auch das ist für einen linken Pazifisten wie mich eine bittere Erkenntnis. Natürlich bin ich prinzipiell gegen Waffenlieferungen und Aufrüstung. Zum einen wird dadurch nur Tod und Leid über die Menschen gebracht, zum Anderen verdient die Rüstungslobby am meisten daran. Meine pazifistische Haltung verlangt also, dass ich gegen jede Waffenlieferung an die Ukraine bin. Wäre ich ein Heuchler, dann würde ich sagen, die Anderen sollten die Waffen lifern, aber nicht Deutschland. Als echter Pazifist muss ich aber sagen, dass jede Waffenlieferung von Übel ist. Nur muss ich dann bedauerlicherweise mit ansehen, wie Massengräber entstehen, wie Frauen brutal vergewaltigt werden, wie ganze Dörfer und Kleinstädte ausradiert werden. Ich kann natürlich meine Hände als Pazifist in Unschuld waschen, ich habe nichts damit zu tun, so bedauerlich es auch ist. Soll doch die Ukraine kapitulieren, und schon ist der Krieg vorbei. – Bloß wäre das eine absolut zynische und unmenschliche Haltung. Der Krieg wäre vorbei, aber der Terror, die Repression nicht. Doch was würde das mich noch angehen? Es wäre eine innere Angelegenheit Russlands.

Ich bin erzogen worden mit dem absoluten moralischen Grundsatz: „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“. Das war meine unverrückbare Haltung, und das ist sie bis heute geblieben. Allerdings gehörte ich immer zu denen, die den Alliierten für die Niederschlagung des Nationalsozialismus Dankbarkeit entgegenbrachten. Sie haben ganze Völker befreit, aber auch die Gegner des Hitler-Regimes, zu denen auch Teile meiner Familie gehörten, erlöst. Die unterdrückten und versklavten Völker hätten sich nicht selbst befreien können. Nur mit Waffen und Krieg, nur mit den USA war der deutsche Faschismus zu besiegen. Das war und ist mir klar, und es widerspricht meiner kompromisslosen Haltung gegen den Krieg, erzeugt ein Spannungsfeld, das mich dazu zwingt, zumindest den zweiten Weltkrieg als Ausnahme von der Regel zu betrachten, dass Waffengewalt niemals ein Problem löst.

Heute nun wird die Ukraine von Russland angegriffen. Wenn wir in Deutschland über unsere Schuld im zweiten Weltkrieg reden, dann sprechen wir auch über unsere Schuld gegenüber der Sowjetunion, die wir mit dem heutigen Russland gleichsetzen. Aber das ist falsch! Gerade in der Ukraine haben die Deutschen unvorstellbar gewütet. Und diese Ukraine versucht derzeit, ein demokratisches, friedliches Gemeinwesen aufzubauen. Natürlich gibt es auch dort Faschisten, aber nicht mehr als hier. Die Ukraine hat viel geleistet. Dass es sich bei der ukrainischen Regierung um Faschisten handele, ist ein Narrativ des Kreml. In Deutschland glauben aber viele, wir seien es vor allem Russland schuldig, nicht in Opposition zu seiner Führung zu geraten, weil wir gerade in Russland Kriegsverbrechen begangen haben.

Es ist also an der Zeit, unsere kompromisslose pazifistische Haltung zumindest auf den Prüfstand zu stellen. Was wäre geschehen, wenn sich die USA im zweiten Weltkrieg herausgehalten hätten, wie es viele Isolationisten verlangten? Wie sähe Europa heute aus? Ich glaube, wir hatten eine Chance in den letzten 70 Jahren, die Welt friedlicher zu machen, und wir haben sie nicht genutzt. Das ist die Schuld unserer Generation. Viele glauben, dass es möglich sein müsse, auf diplomatischem Wege eine Lösung des Konflikts herbeizuführen. Das würde mich sehr freuen, und ich fände es zur Vermeidung weiteren Blutvergießens sogar bedenkenswert, die sogenannten Separatistengebiete in der Ostukraine an Russland abzutreten, um das Blutvergießen zu beenden. Und das, obwohl ich weiß, dass sehr viele dort lebende Menschen zwar russisch als Muttersprache haben, sich aber dennoch als Ukrainerinnen und Ukrainer fühlen, wie der ukrainische Präsident Selenskyi z. B. In der Zeit vor Kriegsbeginn ist wirklich mit aller Macht versucht worden, eine politische Lösung zu erreichen, doch Wladimir Putin hat all diese Versuche ins Leere laufen lassen. Er fühlte sich stark und sieht den Westen seit langem als schwach an. Seit 8 Jahren tönt seine Propaganda, es werde irgendwann zu einem Atomkrieg mit dem verweichlichten, vom Genderwahn und schwulen Eliten beherrschten Westen kommen, und Russland werde siegen.

Und da ist ein weiterer Grund, warum viele Deutsche lieber die Ukraine untergehen sehen, als selbst sich an ihrer Verteidigung zu beteiligen: Der Atomkrieg und die verständliche Angst davor. Noch nie hatte ich so große Angst als nach dem 27. Februar, als Putin seine Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzte. Viele Menschen befürchten, Russland könnte Waffenlieferungen als Einmischung und Kriegsbeteiligung werten und dann auch gegen uns losschlagen. Ich glaube auch, dass dies eine Möglichkeit ist. Doch was geschieht, wenn wir uns alle still verhalten und Russland nichts entgegensetzen? Welches Ziel sucht sich der russische Präsident nachher aus? Wer wird sein nächstes Opfer? Womit wird er sich zufrieden geben? Worauf kann man sich verlassen? Worauf kann man hoffen? Was kann man ihm bieten, um ihn von weiteren Kriegszügen abzuhalten, wenn wir deutlich machen, dass es keine Gegenwehr geben wird?

Ja, auch ich habe Angst vor einem Atomkrieg, und ich weiß nicht, was Wladimir Putin tun wird, wenn er sich durch den zähen Widerstand der Ukraine in die Ecke gedrängt fühlt. Doch die Aufforderung des Philosophen Richard David Precht, die Ukraine solle sich ergeben, und den Brief von mehreren deutschen Intellektuellen und Künstlerinnen, wir sollten der Ukraine auf keinen Fall helfen, finde ich wirklich zynisch.

Als Pazifist bin ich gegen Krieg, gegen Waffenlieferungen, gegen wirtschaftlichen Gewinn durch Leid und Tod. Und es darf nicht leicht sein, diese Haltung ins Wanken zu bringen. Gleichzeitig kann ich mich vor dem Leid der Wehrlosen in der Ukraine nicht verschließen, und ich weiß, dass es mit der Niederlage des Landes nicht enden wird. Ich bin fest davon überzeugt, dass mit der derzeitigen russischen Führung kein Kompromiss möglich ist. Meiner Ansicht nach haben wir es nicht geschafft, die Idee des Gewaltverzichts und der friedlichen Konfliktlösung in der Politik so zu verankern, dass es zu einem Krieg wie diesem nicht mehr kommen kann. Es ist auch die Frage, ob es nicht immer Menschen auch in Machtpositionen geben kann, die sich einer solchen allgemeinen Völkerrechtsregel widersetzen werden.

Was also tut ein Pazifist? Was immer wir tun, was immer Deutschland tut, es ist in irgend einer Hinsicht falsch, und in beiden Fällen gibt es immer zwingende moralische Gründe dagegen. Nur muss man sich für irgend etwas entscheiden. Das fällt schwer, denn wenn eines für mich und meine Generation, soweit sie politisch interessiert ist, immer klar war, dann war es dies: Wir sind die guten, die aus der Geschichte gelernt haben. Fehler wie den Altvorderen werden uns nicht mehr passieren. Und jetzt stehen wir vor einem Dilemma, in dem wir nicht mit einer einfachen, klaren Haltung richtig handeln und uns moralisch gut fühlen können.

Insofern ist es mutig eine Entscheidung zu treffen, egal welche. Die eine, den alten Grundsätzen folgende, mag leichter sein, zynischer klingen und nur des Wegschauens bedürfen, um moralisch ein reines Gewissen zu haben. Doch ich hoffe, die Menschen, die diese Ansicht vertreten, haben sie wohl durchdacht. Darunter sind Menschen, die ich schätze, wie Reinhard Mey und Juli Zeh. Ich selbst muss sagen, dass ich lieber der Ukraine bei ihrem Existenzkampf helfen als wegschauen möchte. Das ist keine leichte Entscheidung, und ich werde immer wieder prüfen und schwanken, und sie ist nicht von fester Gewissheit, sondern von bitterer Notwendigkeit getragen. Wenn es einfach wäre, und sei es auch nur im Einzelfall, die pazifistische Haltung zu durchbrechen, dann wäre sie schnell nur noch Makulatur und ein Feigenblatt. Meiner Ansicht nach müssen wir jetzt die Unfähigkeit, den Krieg zwischen Staaten und Völkern nach 1945 unmöglich zu machen, mit einem weiteren Krieg bezahlen. Ob wir danach noch einmal eine Chance auf eine friedliche Welt haben, wissen wir nicht, so unsicher ist die Zukunft.

In den letzten Wochen wurde mir oft das Beispiel Mahatma Gandhis vorgehalten, wenn ich zweifelte, ob im Falle der Ukraine vollkommener Pazifismus die richtige Lösung sei. Der habe unbewaffnet und mit einer Massenbasis gewaltfrei gekämpft und sogar Tote auf sich genommen. Wir sehen heute die nationalen und religiösen Ausschreitungen in Indien, Bangladesch und Pakistan, aus denen Indien damals bestand. Es herrscht großer Fanatismus z. B. zwischen Hindus und Sikhs. Ich glaube, dass sich Mahatma Gandhi einen unbeugsamen, nationalen Fanatismus zunutze machen konnte, dass die Gewaltfreiheit Ausdruck eines unbeugsamen, fanatischen Willens war. Und was Gandhi als Person angeht: Wie so oft bei der Verehrung großer Männer wird immer vergessen, wie er persönlich mit den Frauen umging, die ihn umgaben. Ich glaube tatsächlich nicht, dass es auch nur ein Beispiel auf der Welt gibt, wo reiner, unschuldiger, gewaltfreier Pazifismus zum Erfolg geführt hat. Pazifismus ist eine Grundhaltung, die alle Menschen teilen sollten. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass wir alle Individuen sind, und irgendwo in der Hinterhand müssen wir Instrumente haben, falls jemand die Regeln des Pazifismus absolut und gewissenlos missachtet. Doch natürlich birgt genau das wieder die Gefahr, dass der Pazifismus mit der Zeit durch Macht und Gewalt abgelöst wird.

So bleibt uns also nur, von Fall zu Fall zu entscheiden und auch unangenehme, schwere Entscheidungen zu schultern.

Ja, in diesem Falle bin ich schweren Herzens für Waffenlieferungen an die Ukraine, auch durch Deutschland, und auch – und vielleicht gerade –
an einem 8. Mai. Möge der Frieden wiederkehren!!! – Und „Nie wieder Faschismus!!! Nie wieder Krieg!!!“

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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