Willkommen an Deck der sinkenden Welt

Der folgende Beitrag wurde für den Ohrfunk geschrieben und wird dort am 14.09.22 gesendet.

Herzlich willkommen im Programmalltag von ohrfunk.de. Ich hoffe, Sie hatten einen schönen und angenehmen Sommer. Wir hier im Sender jedenfalls haben unsere kreative Sommerpause sehr genossen, und es gab viele spontane Dinge zu erleben, aber auch besondere Highlights. Jetzt müssen wir zusammen wieder den Radioalltag bestreiten. Ich für meinen Teil muss schauen, ob ich noch Kommentare schreiben und vor allem lesen kann, ob es mir noch immer gelingt, der Sprachausgabe nachzusprechen, oder ob ich das seit Juni vollkommen verlernt habe. Und ich muss wieder Nachrichten hören. Ich gebe zu, dass mir das besonders schwer fällt. Wohin ich auch blicke: Ich sehe überall schlechte Nachrichten, Zusammenbruch und Hoffnungslosigkeit. Finden in einem Land Wahlen statt, so kann man sicher sein, dass die Rechtsextremen gewinnen wie jetzt in Schweden, einem ursozialdemokratischen Land, und in Italien und Israel wird es auch so sein. Die Klimakrise ist mit Händen zu greifen: Die Wiesen sind braun und gelb, und wenn ein paar Tropfen Regen fallen, riecht es nach Staub und Verwesung. Der Rhein führt kaum Wasser, und der Edersee, das Wasserbecken Hessens, hat weniger als 20 % seines üblichen Füllstandes. Sicher: In den letzten Tagen regnet es mehr, doch das Grundwasser ist bedrohlich gesunken. Und die Politik steht hypnotisiert da wie das Kaninchen vor der Schlange. Gleichzeitig werden wir der Corona-Pandemie einfach nicht Herr, auch mich hat es in diesem Sommer erwischt, und es war mehr als eine Erkältung oder normale Grippe. Und dann müssen wir natürlich über die Energiekrise reden, die zumindest derzeit keine ist. Die Gasspeicher sind voll, trotzdem erhöhen die Energieunternehmen die Preise auf unverschämte Weise und fahren die größten Gewinne ihrer Geschichte ein. Auto-, Kohle- und Atomlobby reiben sich die Hände, und die Politik weiß nicht, ob – und wenn wie – sie die übermäßigen Gewinne abschöpfen kann oder darf. Auch Medien, die wir derzeit zum Einordnen der Ereignisse so dringend brauchen, verlieren ihre Glaubwürdigkeit, wie der RBB- und der NDR-Skandal zeigen. Das alles muss ich mir wieder Tag für Tag anhören und durchlesen, damit ich für Sie und euch gute, einordnende, ausgewogene und faktenbasierte Kommentare schreiben kann. Es wird nicht einfach, an der Welt nicht zu verzweifeln.

Und dann sind auch noch Michail Gorbatschow und die Queen gestorben. Das Scheitern Gorbatschows klingt im Nachhinein wie das erste Anzeichen dafür, dass die Welt in die falsche Richtung driftete, aber das ist persönliche Gefühlsduselei. Michail Gorbatschow hat in seiner Zeit das Beste zu erreichen versucht, wollte Katastrophen verhindern und einen Weg in die Zukunft finden. Der Tiger, den er bändigen wollte, hat sich losgerissen und ist davongaloppiert.

Ganz anders ist es mit der Queen: Sie hatte nie eine Agenda. Sie war nur 25782 Tage einfach da, reiste durch ihr Land, hörte zu, tröstete und sprach Mut zu, beriet die Regierungen, ohne sich öffentlich äußern zu müssen oder zu dürfen, und gab den Politiker*innen eine Möglichkeit, zu sagen, was sie wirklich dachten, ohne befürchten zu müssen, dass es öffentlich wurde. Sie hat immer darauf geachtet, alle gleich zu behandeln, und sie war über gesellschaftliche Grenzen hinweg geachtet. Ich bin absolut kein Royalist, aber für manche Staaten ist die royalistische Staatsform, nicht zu verwechseln mit der Regierungsform, ein Segen. Und wenn die Staatsoberhäupter dieser Staaten, ich mag das Wort „Monarchen“ nicht gebrauchen, dann noch echte Demokrat*innen sind, kann das von Vorteil sein.

Ich gebe zu: Der Tod der Queen hat mich berührt. Einerseits hat das mit der langen Dauer ihrer Amtszeit zu tun. Robert Musil sagte einmal sinngemäß über das letzte Jahrzehnt im Leben des österreichischen Kaisers Franz-Josef, dass er schon so lange lebe, dass sich niemand ein Leben ohne ihn und sein Reich, das Musil Kakanien nannte, vorstellen könne. Diese Kontinuität allein schafft einen Anker, an dem man sich halten kann, eingebettet in die sich nur langsam verändernden Rituale einer jahrhundertealten Tradition, die keine rechtliche Bindung haben, den Bürgerinnen und Bürgern aber vertraut sind. Auch der zweite Grund für meine Trauer um die Queen wird mit einem Bild aus dem alten Österreich-Ungarn gut beschrieben, oder genauer, mit einem Bild aus dem Musical Elisabeth. Dort trifft Kaiser Franz-Josef im Traum den späteren Mörder seiner Frau, der ihn an Deck der sinkenden Welt begrüßt, wo alles, was dem Kaiser lieb und teuer war, langsam zerstört wurde: Nationalismus, Hass, Freiheitswille und andere politische Leidenschaften rissen an dem bröckelnden Fundament der österreichisch-ungarischen Monarchie. So wie Franz-Josefs Tod 1916 irgendwie das 19. Jahrhundert beendete, so beendet der Tod der Queen endgültig das 20. Jahrhundert. Es war zunächst ein Jahrhundert der Katastrophen, aus denen man in der zweiten Hälfte hätte lernen sollen, können und müssen. Doch aus heutiger Sicht scheint vieles davon vergebens gewesen zu sein. Dieselben Leidenschaften brechen wieder auf, und die Weltgeschichte scheint wie ein Pendel, das letztlich keine positive Entwicklung kennt. Tragen wir mit der Queen vielleicht die Hoffnung zu Grabe? Nicht wegen ihrer Taten, sondern wegen ihrer Kontinuität? Ist es nicht das letzte Fest, die letzte Zusammenkunft einer vergangenen Epoche? Beweinen wir, beweint die Welt mit ihr vielleicht weniger den Menschen Elizabeth, als vielmehr die vertanen und verpassten Chancen? Betrauern wir vielleicht sogar die Welt, wie wir sie kannten, und in der wir einst auf eine große Zukunft hofften?

Der Sommer ist vorbei, und er war teilweise schön, und teilweise schon unerträglich. Der Klimawandel ist unübersehbar, und vielleicht haben wir nie wieder solche unbeschwerten Sommer, wie Rudi Carrell sie einst besang. Das ist einfach traurig. Und wenn ich jetzt hier an meinem PC sitze, einen Text schreibe und ihn dann in ein Mikrofon spreche, dann muss ich mich mit all diesen Fragen befassen und sie mir nahe kommen lassen. Das wird nicht leicht. Meinetwegen hätte der Urlaub viel länger dauern dürfen. Trotzdem: Wie alle im Ohrfunk-Team werde ich mein Bestes geben, so viel Hoffnung und Zuversicht wie möglich zu verbreiten, ohne dabei etwas zu beschönigen.

Ich wünsche Ihnen allen eine gute Zeit. Bleiben Sie gesund, und wenn möglich verzweifeln Sie nicht.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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