International low-vision Song Contest 2023, oder: Wie ich ein Großereignis übertrage

Heute Abend ist es so weit, der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) richtet zum zweiten Mal den „International low-vision Song Contest (ILSC)“ aus. An dem Wettbewerb, der ein wenig dem ESC nachempfunden ist, nehmen blinde und sehbehinderte Musiker*innen aller Genres aus 17 Ländern und 3 Kontinenten teil. Der Ohrfunk überträgt die Veranstaltung mit einer Sondersendung ab 18 Uhr hier aus meinem Studio. Da der Song Contest selbst auf englisch durchgeführt wird, wird meine Freundin Mirien Carvalho Rodrigues den gesamten Verlauf simultan ins Deutsche dolmetschen. Sie hat das vor zwei Jahren schon gemacht, und als studierte Konferenz- und Simultandolmetscherin ist sie genau die Richtige für diese Aufgabe. Zusätzlich gibt es im Rahmenprogramm Unterhaltungen mit Anja und Rainer Damerius und Markus Bruch in Siegen, und unsere Redakteure Kathrin und Andreas Mangelsdorf, die beim Ohrfunk auch für die monatlichen Low-vision Charts, unsere Hörer*innenhitparade, verantwortlich sind, melden sich aus Hannover, wo der Verwaltungsrat des DBSV tagt. Sie wollen Interviews und Stellungnahmen live in die Sendung bringen. Nach dem Song Contest soll es auch für Hörer*innen möglich sein, hier anzurufen und sich mit uns über das Ereignis zu unterhalten. Doch wie macht man das alles aus einem Heimstudio heraus? Wie schaltet man live an einen anderen Ort, bindet das Telefon ein, schafft die Simultandolmetschung einer solchen Veranstaltung?

Ich sitze an meinem Schreibtisch. Vor mir steht meine Tastatur, dahinter der Mikrofonständer. Rechts neben der Tastatur steht ein kleines Mischpult, links meine Soundkarte, an die das Mischpult angeschlossen ist. Das Mikrofon ist ans Mischpult angeschlossen. Rechts schräg hinter mir steht auf einem Sideboard ein Laptop, das ebenfalls ans Mischpult angeschlossen ist. Hinter mir steht ein kleiner Tisch mit einem bequemen Schreibtischstuhl, auf dem Tisch ein Stativ mit Mikrofon, eine Flasche Wasser mit Glas und eine Braillezeile. Dort sitzt Mirien. So wird es heute Abend hier aussehen, und wir Beide werden sehr konzentriert sein. Auf dem Laptop ist die Youtube-Seite aufgerufen, auf der der ILSC vom DBSV in Berlin übertragen wird. Der Ton der Übertragung wird in das Mischpult eingespeist. Mirien wird ihren Kopfhörer ins Mischpult einstöpseln und ausschließlich die Übertragung aus Berlin hören. Ich habe meinen Kopfhörer in der Soundkarte und werde hören, was tatsächlich auf den Sender geht: Die Übertragung aus Berlin und Miriens Stimme, die ich darüber lege, sobald gesprochen wird, dann drehe ich den Originalton leise und die Hörer*innen hören Mirien und nur leise das englische Original. Mirien selbst merkt nicht, dass ich die Übertragung leise drehe, sie muss ja alles genau hören können.

Auf meinem Rechner läuft unsere Sendesoftware, Station Playlist Studio, die sich mit unserem Icecast-Streamingserver verbindet und abspielt, was sie über den Line-in-Eingang bekommt. Die Software spielt auch Musik ab, das heißt: Vor und nach der Übertragung kann ich damit Lieder abspielen und nur noch das Mikrofon über den Line-in-Eingang schicken. Außerdem wird die Konferenzsoftware Teamtalk laufen. Wir haben einen eigenen kleinen Teamtalk-Server mit einem Raum, in dem sich unsere Redakteure aus den verschiedenen Studios versammeln können. Die Qualität ist recht gut, also können wir gemeinsam eine Sendung machen. Doch wie kriege ich mit *einem* Rechner und einer Soundkarte zusätzlich zu meinem Mikrofon die Leute im Teamtalk-Raum auf den Sender? Das läuft über sogenannte virtuelle Audiokabel. Das ist ein Programm, das virtuell, also ohne echte Kabel, mehrere Ein- und Ausgänge simuliert. Windows selbst hat immer nur einen Ausgang und einen Eingang gleichzeitig aktiv. Ich sage also Teamtalk, dass sein Ausgang das virtuelle Kabel Nr. 1 ist, und ich sage meiner Sendesoftware, dass ihr Eingang ebenfalls dieses virtuelle Kabel ist, zusätzlich zu meinem Mikrofon. In Wahrheit ist es etwas komplizierter, ich muss insgesamt vier virtuelle Kabel legen, damit heute Abend alles zu unserer Zufriedenheit läuft. Zwei Kabel brauche ich dazu, dass die Leute im Teamtalk-Raum die Sendung hören können, und dass das, was sie sagen, auch über den Sender geht. Zwei weitere Kabel benötige ich für das Telefon. Ich muss dazu eine zweite Instanz des Teamtalk-Programms starten, einen zweiten Nutzer in den Raum schicken und dessen Ein- und Ausgänge mit dem Software-Telefon verbinden. Dann können sowohl die Leute im Teamtalk-Raum hören, was die Leute am Telefon sagen, als auch beides zusammen auf den Sender gelegt werden. Und der Mensch am Telefon hört auch alles. Klingt dann wie ein richtiges Radiostudio, wird aber mit Hausmitteln realisiert. Und natürlich ist die ganze Konstruktion anfällig und ziemlich instabil. Wenn ich aus dem Netz falle, ist sowieso alles hin, und in den letzten Tagen ist meine Internetverbindung alles Andere als stabil.

Zusätzlich zu diesen technischen Details ist da auch noch Mirien. Sie hat im Vorfeld so viele Informationen wie möglich gesammelt, hat die bereits feststehenden Teile der Moderation schriftlich erhalten und kann sich darauf vorbereiten, sie so zu sprechen, dass die vorhandene Zeit ausreicht. Sie spricht die Vorstellung der Bands, die Audiodescription der Musikvideos und die Unterhaltung der Moderator*innen im Studio des DBSV. Ich bin dafür zuständig, rechtzeitig das Mikrofon zu öffnen und bei Beginn der Musik wieder zu schließen, den Sound aus Berlin laut zu drehen, wenn Musik kommt, und leise zu drehen, wenn Mirien spricht. Wir können uns nicht jedes Mal absprechen, die Zeit ist zu kurz, drum haben wir uns schon vor zwei Jahren darauf geeinigt, dass ich den Originalton am Anfang immer eine Sekunde stehen lasse, bevor sie zu sprechen anfangen kann, damit unsere Hörer*innen auch die Originalstimmen kurz hören, bevor sie von Mirien überlagert werden. Und sie versucht, mit ihrer Ansage eine Sekunde vor dem Ende des gesprochenen Textes fertig zu werden, damit ich Zeit habe, vor Beginn der Musik das Mikrofon stumm zu schalten und die Musik lauter zu stellen. Vor zwei Jahren hat das sehr gut funktioniert, und ich hoffe, dass das heute ebenfalls klappt. Drücken Sie uns die Daumen.

Nachtrag: Etwas ganz wichtiges habe ich ja vergessen. Während ich an meinem Rechner sitze, kann ich ja den Laptop nicht steuern, der steht schräg rechts hinter mir und ist unerreichbar. Gott sei Dank hat meine Sprachausgabe eine Möglichkeit, eine Remote-Verbindung zu diesem Rechner aufzubauen. Mit einem Tastendruck kann ich dann einfach zwischen beiden Rechnern wechseln. Ohne dieses praktische Tool wäre ich aufgeschmissen, wenn während der Übertragung irgend etwas passieren würde.

Die Sendung des Ohrfunks können Sie von 18 bis 0 Uhr hören. Sie können auch bei der Abstimmung mitmachen, mit beeinflussen, wer den International low-vision Song Contest gewinnt.

Informationen zum ILSC finden Sie hier.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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